In memoriam Hans Bokelmann 1931 -2016

Gerade noch, als ich ein gutes Buch las, dachte ich: Ach, das muss ich dem Bokelmann empfehlen.

Ich sage immer „Der Bokelmann“, wenn ich von ihm spreche, so wie man unter Studenten über den Professor spricht – schließlich habe ich tatsächlich bei ihm studiert, genauer bei Prof. Dr. Hans Bokelmann – am Institut für allgemeine und historische Erziehungswissenschaft, Abteilung für Erziehungstheorie und Bildungstheorie.

Ich habe keine Ahnung, ob es ein Pro- oder Hauptseminar war, als ich mich für Bokelmann entschied, es ging um irgendwelche Scheine. Unsere ganze Existenz drehte sich um Scheine – zu erwerben mit möglichst wenig Aufwand und möglichst viel Spaß. Mehr als das Thema interessierte uns die Uhrzeit (nichts, was am Freitagnachmittag stattfand), ob eine Freundin mit von der Partie war und ob der Prof als ok galt.

Also keiner, der uns triezte oder kompetent&weltfremd war oder einer war von diesen Kuschlern, die uns das „Du“ anboten und Scheine mit Einheitsnoten wie Karamellbonbons verteilten. So einer war Bokelmann nicht. Er sprach und dachte so schnell, dass mir schwindlig wurde – besonders, wenn ich gerade der Vorlesung über die „Einführung in die Hauptströme des Marxismus“ am Institut für Soziologie entronnen war.

Ich erinnere mich noch genau daran, dass in meinem ersten Seminar bei Bokelmann der Roman „Schöne Tage“ von Franz Innerhofer Pflichtlektüre war. Ein Roman, in dem Innerhofer seine schreckliche Kindheit beschreibt – als Leibeigener auf dem Bauernhof seines Vaters, dessen unehelicher Sohn er war – und es schaffte, seinem Schicksal zu entkommen.

Der Wille des Menschen sich selbst zu bestimmen.

Am Institut für Soziologie herrschte das Dogma der Sozialisationstheorie – die mich an das indische Kastensystem erinnerte: als Unberührbarer geboren und als Unberührbarer gestorben. In Bokelmanns Seminaren hingegen war die Rede von Selbstbestimmung. Von Selbstbefreiung.

Es ging um Schleiermachers Hermeneutik, um Kant, Thomas Bernhard, Kafkas Verwandlung, Dürrenmatt – Literatur war für ihn mehr als ein ästhetisches Experiment. Er sah den Menschen und seine Geschichten. Für den er sich mehr interessierte als für den akademischen Überbau. Mehr als für die Anzahl veröffentlichter Aufsätze.

Ja, er war ein Menschenwissenschaftler.

Einmal lud er das ganze Seminar zu sich nach Hause ein. Wir saßen auf dem Boden vor seiner Bücherwand, tranken den von Bokelmann gestifteten Wein (eine ganze Kiste), aßen Nudelsalat (von den Pädagogik-Studenten zugerichtet), mousse au chocolat (die waren wir unserem Ruf als Romanistinnen schuldig) und blickten auf Münster herab: Bokelmann wohnte nicht wie andere Professoren in einer gemütlichen Altbauwohnung im Kreuzviertel, sondern in dem einzigen Hochhaus des ganzen Münsterlands. Und redete über das Fliegen.

Er hatte tatsächlich einen Pilotenschein gemacht.

Daran dachte ich immer, wenn ich mit ihm sprach.

Ein Mann, der fliegen konnte.

Gegen Ende meines Studiums arbeitete ich bei ihm als studentische Hilfskraft. Manchmal saßen wir mit ihm „beim Griechen“, einem Restaurant am Schlossplatz, wo wir den Abschluss eines Semesters feierten, die wissenschaftlichen Hilfskräfte und ich, wobei manche Doktoranden weihevoller und gespreizter auftraten als der Doktorvater selbst – der wunderbar über Studenten lästern konnte, etwa über die Frau mit dem „Pack-und-Wandertrieb“, die ständig Tüten mit sich herumtrug, in denen sie nicht nur ihre Bücher transportierte, sondern auch Wollknäuel in verschiedenen Farben: Es war nicht nur die Epoche des Nato-Doppelbeschlusses, sondern auch der entfesselten Strickerinnen.

Wenn wir nicht rauchten, strickten wir. Ich bin mir nicht sicher, aber ich meine, dass ich in den Seminaren nicht gestrickt hätte. Aber vielleicht verkläre ich das jetzt auch. Ich müsste Bokelmann fragen.

Wir blieben auch nach Ende meines Studiums in Kontakt. Immer war Bokelmann da und nahm Anteil an meinem Leben, mit seinen mit dunkelblauem Filzstift geschriebenen Briefen, voller Komposita (Wollenkönnen! Sichselbsterlernen! Könnenchancen!) und Gerundien: sich in Welt einarbeitend und diese ausarbeitend, seinen Maskenwechsel durchschauend! Er liebte Ausrufungszeichen!

Und ich liebte ihn dafür. Für seine Weltsicht, für seinen unaufdringlichen Gottesglauben, für seine unstillbare Neugier.

Wenn wir uns sahen, trafen wir uns in Münster bei Stuhlmacher am Prinzipalmarkt. Bokelmann aß eine Kartoffelsuppe, ich ein Wiener Schnitzel, und wir redeten über die Welt.

Und erst jetzt, als ich das Buch beiseite legte und kurz davor war, den Bokelmann anrufen, um es ihm zu empfehlen und mit ihm über die aus den Fugen geratene Welt zu reden, fiel mir ein, dass das gar nicht mehr geht.

Weil mein Freund Hans Bokelmann am 8. Juli gestorben ist.

In seinem letzten Brief schrieb er mir: Ich werde wieder ein Zeichen geben!

Daran glaube ich.