Wenn ich Bürgermeisterin von Venedig wäre

„Der Tourist ist ein Mensch mit heimlichem Groll. Er tötet. Er spürt die Venezianer nicht, mit denen er in Berührung kommt, er sieht sie nicht. Oder er stellt keine Beziehung zwischen ihnen und Venedig her, außer er findet vielleicht, dass ein Bettler das Profil irgendeines Dogen habe“

Das schrieb Jean-Paul Sartre. Anfang der 1950er Jahre. Heute trifft sein hübsches Bonmot nicht mehr zu. Erstens, weil es kaum noch Venezianer gibt (aktueller Stand: weniger als 53 000, Tendenz sinkend), mit denen der Tourist befürchten muss, in Berührung zu kommen. Und zweitens, weil die überwältigende Mehrheit der Venedig-Besucher gar nicht mehr weiß, was Dogen sind. Sie wissen aber, dass Venedig im Wasser liegt, und wo sich die „schönsten Instagram-Spots abseits der Massen“ befinden, sie wissen, wo man am Canal Grande Picknick machen kann, und dass man die teure Gondelfahrt spart, wenn man das Foto in einem traghetto macht, dem Gondel-Fährdienst, der nur zwei Euro kostet. Im Grunde stehen wir hier den Touristen nur im Weg, wenn sie mit ihren Rollenkoffern durch die Gassen irren, weil sie ihre über Airbnb gebuchte Unterkunft nicht mit Google-Maps finden, oder wenn sie das Vaporetto fürs Sightseeing nutzen wollen, da sie gelesen haben, dass Rundfahrten mit Touristenschiffen durch die Lagunen teurer sind.

Tourismus als Fluch unserer Tage

Dank Billigflügen, Airbnb und Kreuzschiffen wurde der Tourismus zur Industrie und zum Fluch unserer Tage. Nicht mal die Pest von 1630 war so effektiv bei der Ausrottung der letzten Venezianer wie Airbnb: Es gibt keine Beschränkungen, ein formloser Antrag reicht. Und wenn das nicht reicht, bauen chinesische Finanziers neue Hotels in Mestre: 4800 Betten – und ebenso viele Tagestouristen. Verantwortlich dafür ist das politische Programm der venezianischen Bürgermeister der letzten 30 Jahre. Es lautet: „Venezianer raus. Und Touristen rein“. (Und wer mir jetzt mit dem Sind-die-Venezianer-ja-selbst-schuld-muss-man-nur-richtig-wählen kommt, den möchte ich darauf hinweisen, dass Venedig ja mit dem Festland zwangsverheiratet wurde, wo die überwältigende Mehrheit der Wähler lebt) Seit 2015 regiert der Unternehmer Luigi Brugnaro Venedig – mit Tweets wie Salvini und Interessenkonflikten wie Berlusconi. Wie seine Vorgänger auch hängt er dem fundamentalistischen Glauben an den Massentourismus wie ein Gotteskrieger an: Wer nicht daran glaubt, wird geköpft.

Tweets aus der Villa im Veneto

An Feiertagen und im Sommer kommt es in den venezianischen Gassen zum Kollaps, weshalb die Tourismusexperten der Welt vom „Venice model“ sprechen, wenn sie ein Beispiel dafür suchen, wie der Massentourismus eine Stadt zerstört. Als die Bürgermeisterin von Barcelona sagte, dass ihre Stadt „nicht wie Venedig enden sollte“, wurde sie dafür vom venezianischen Bürgermeister Luigi Brugnaro heftig attackiert. Brugnaro lebt in einer weitläufigen Villa in Mogliano Veneto, von wo aus er an Feiertagen –  wenn es wegen des unkontrollierten Andrangs an den Anlegern der Vaporetti mal wieder zu apokalyptischen Szenen kommt und die Tagestouristen (90 Prozent der Besucher) Tonnen von Müll hinterlassen – gerne twittert, dass man Venedig nicht schließen könne.

Mein Programm: mehr Tabus!

„Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen“, sagte der französische Philosoph Blaise Pascal. Wie wahr. Wenn es nach mir ginge, also wenn ich Bürgermeisterin von Venedig wäre, würde ich mich nicht damit lächerlich machen, ein paar Gemeindepolizisten hinter Absperrungen zu stellen, was als Maßnahme gegen den Massenandrang so wirkungsvoll ist, wie der Versuch, Wasser bergauf zu drücken. Ich würde auch keine Sekunde daran glauben, dass ein Eintrittsgeld jemanden davon abbringen würde, Venedig zu besuchen. Meine erste Amtshandlung wäre, eine Psychotherapiestunde für Leute einzurichten, die sich in Venedig auf den Boden fallen lassen, um mitgebrachte Brote zu verspeisen. Klar, dass es dann auch wieder ein paar Schlaumeier geben würde, die Campingtische und -stühle mitbringen würden, aber mit denen würde ich auch noch fertig.

Vor allem aber würde ich eine weltweite Werbekampagne entwerfen lassen, die zum Ziel hat, in den Menschen eine moralische Schranke zu etablieren, die sie davon abhält, anderen Menschen den Lebensraum zu zerstören. Eine Werbekampagne, die den Tourismus zu einem Tabu erklärt. Nicht so schlimm wie Pädophilie, aber fast. Anderen Menschen Wohnungen wegzunehmen oder mit Kreuzfahrtschiffen die Luft zu verpesten, muss mindestens so peinlich sein, wie Elefanten zu jagen oder Pelzmäntel zu tragen. Wer sich traut, zuzugeben, für 29.99 Euro nach Venedig geflogen zu sein, nur um ein Selfie am Markusplatz zu machen, sollte so verstörend auf seine Mitmenschen wirken, wie jemand, der gerade zugegeben hat, dass er gerne kleine Hunde grillt. Wer von einem Kreuzfahrtschiff auf Venedig herabgeblickt, das beim Verlassen der Stadt eine Schneise der Zerstörung hinterlässt – aus Feinstaub und Wasserdruck, der die Fundamente der Stadt ruiniert, sollte befürchten, für jemanden gehalten zu werden, der nach zwei Bier zugibt, gerne auch mal Kinderpornos zu gucken.

Ja, ich wäre dafür, endlich wieder mehr Tabus einzuführen. Demokratie wird ja so was von überschätzt. Um zu diesem Schluss zu gelangen, musste ich übrigens nicht erst  „House of Cards“ sehen. Der Italiener an meiner Seite betrachtet mich als Schreckensherrscherin, seitdem ich mich mal versprochen und einer blutrünstigen Gruppe zugehörig bezeichnet habe: gruppo sanguinario fand er für eine Deutsche viel passender, als eine banale Blutgruppe. Und da man hier in Italien wie selbstverständlich davon ausgeht, dass dieses Despotische aufgrund meines Ursprungs in meinem Blut angelegt sei, so wie bei den Sturmtruppen, einer Comicreihe über eine ebenso tatkräftige wie glücklose deutsche Militäreinheit, die in Italien legendär erfolgreich ist, gehe ich von einem klaren Wahlsieg aus.

Sie meinen, ich hätte keine Chance? Das hat man bei Trump auch gesagt.