Die Republik der Massaker

Neulich hat die venezianische Sektion von ANPI, das ist der italienische Partisanenverband, hier in Venedig das Buch von Salvatore Borsellino vorgestellt: „Die Republik der Massaker. 1978 – 1994. Der Blutschwur zwischen Staat, Mafia, P2 und rechtsextremer Aufruhr“. Es ist ein Buch, das  aufzeigt, wie die „Strategie der Spannung“ in jenen Jahren auf die Italiener angewendet wurde – mit dem Ziel des Staatsstreiches, der, das muss gesagt werden, mit der Wahl von Silvio Berlusconi erreicht wurde: Es folgte seine über zwanzigjährige Herrschaft bei völligen Fehlen einer Opposition.

Wie immer hat mich Salvatore Borsellino sehr bewegt. Nicht allein wegen seiner persönlichen Geschichte, sondern vor allem wegen seiner Wut, die ich für die einzig angemessene Art der Reaktion auf den in Italien herrschenden Zynismus halte. Es gab einen großen Applaus, als Salvatore sich mit lauter Stimme über die (vom Ex-Staatspräsidenten Giorgio Napolitano angeordnete) Zerstörung des abgehörten Telefonats zwischen Napolitano und dem ehemaligen Innenminister Mancino empörte, weil Napolitano ganz offensichtlich in diesem Telefonat dem ehemaligen Innenminister Straffreiheit zugesichert habe: Zu dem damaligen Zeitpunkt wurde Mancinos Telefon von der Staatsanwaltschaft Palermo abgehört, weil Mancino verdächtigt wurde, falsche Aussagen gemacht zu haben.

Warum, fragt sich der Kunstkritiker Sgarbi, der nie fehlt, wenn es sich um Unappetitliches der italienischen Politik handelt, hat Napolitano Salvatore Borsellino nie für seine Aussagen verklagt? Salvatore gab selbst die Antwort: Weil Napolitano befürchtet, dass Salvatore bei einem solchen Verfahren gegen ihn den Inhalt des (angeblich) zerstörten Telefonats präsentieren könnte. Die, wie die Staatsanwälte aus Palermo stets versichert haben, juristisch irrelevant seien. Aber nicht ethisch-moralisch.

Über den Inhalt dieses Telefonats habe ich einen ganzen Roman geschrieben: Palermo Connection. Und in der Tat stellt die italienische Wirklichkeit wie die ZEIT schrieb, jeden Roman in den Schatten. Weil es genau die fehlende Ethik einer zynischen politischen Klasse ist, die vielen Italienern und der italienischen Demokratie das Leben gekostet hat.

Deshalb empfehle ich auch dieses Video  (nur auf Italienisch, aber dennoch aufschlussreich)

Die Personen, die man in diesem Video sieht, und die dafür sorgen, dass die berühmte rote Agenda direkt in den wenigen Minuten nach dem Bombenanschlag aus Paolo Borsellinos Aktentasche verschwindet, sind keine Mafiosi. Es sind Polizisten, Carabinieri und Staatsanwälte. Das Video wurde zum ersten Mal letztes Jahr am 19. Juli, dem Todestag von Paolo der Öffentlichkeit gezeigt, anlässlich des jährlichen Gedenkfeier in der Via D’Amelio, am Ort des Attentats. Autor des Videos ist der Antimafia-Aktivist Angelo Garavaglia Fragetta. Es ist ein ungewöhnliches Video, hervorgegangen aus vielen Jahren der Recherche, der Analyse und dem Aufspüren zahlreicher Videos, die an jenem Nachmittag in der Via D’Amelio gedreht worden waren, kurz nachdem die Bombe explodiert war. Die Paolo Borsellino und fünf seiner Leibwächter das Leben kostete. Das Ziel des Videos ist, den Ermittlern neue Spuren zu liefern – und auf diese Weise neue Fragen zum Raub der roten Agenda von Paolo Borsellino zu stellen – in der er minutiös alles aufgeschrieben hatte, was er nach der Ermordung seines Freundes und Kollegen Giovanni Falcone erfahren hatte. Wäre die Agenda in die Hände der Öffentlichkeit gelangt, wäre die Ermordung Paolo Borsellinos sinnlos gewesen.

Die Mafia ist immer schon der verlängerte Arm der Politik gewesen. Das sollte man nie vergessen.

Und wer jetzt denkt, dass die „Strategie der Spannung“ nur in Italien angewendet worden wäre, der möge sich bitte an das Oktoberfest-Attentat und an die NSU-Morde erinnern.

Ein Kommentar

  1. Sehr verehrte Frau Reski,
    gerade lief im Radio (Bayern 5) ein interessantes Feature über „Galiciens ehrenwerte Gesellschaft“, die spanische Drogen-Mafia.
    Interessant wie sich die Dinge gleichen, bis hin, wie es in der Sendung heißt, dem „sozialen Marketing“. Offensichtlich war die Meinung zu den Drogenbossen – zumindest über lange Zeit – sehr verklärt. So hieß es über einen Boss: „Er sei kein schlechter Mensch, sondern ein guter Mensch, der schlechte Dinge getan hat.“
    Ohne mich einschleimen zu wollen: bemerkenswert auch, daß der schließlich aufkommende Widerstand aus der Bevölkerung gegen die Verbrecher hauptsächlich von Frauen getragen wurde – wie in Italien auch.

    Hier bitte abrufen (ca. 20 Min.):
    https://www.br.de/radio/b5-aktuell/sendungen/notizen-aus-aller-welt/galiciens-ehrenwerte-gesellschaft-notizen-aus-spanien-100.html

    Felices Fiestas
    Kurt Noll

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