Der Fall Borsellino
Articolo in italiano
Der Bruder des ermordeten «Mafia-Jägers» Paolo Borsellino und Italien will die Wahrheit: Momentan läuft der erste Prozess, in dem Staat und Mafia gemeinsam angeklagt sind.
Der Tag, sein Tag, ist kalt und regnerisch. Sturmwind zerrt an den Spruchbändern der Demonstranten, an dem «Den Lebenden schulden wir Respekt, den Toten nichts als die Wahrheit», am «Vereint gegen die Mafia», an den Krawatten der Anwälte, den Baretten der Polizisten und an der dunkelblauen Windjacke von Salvatore Borsellino – der seinem ermordeten Bruder Paolo so ähnlich sieht, dass die Leute in Palermo zusammenzucken, wenn sie ihn sehen.
Salvatore Borsellino ist siebzig Jahre alt. Er lebt in Mailand, ist pensionierter Informatikingenieur und Nebenkläger in dem Prozess, der Aufschluss geben soll über die Hintergründe der Ermordung seines Bruders Paolo, dem Antimafiastaatsanwalt, der am 19. Juli 1992 von der Mafia ermordet wurde – nur 57 Tage nach seinem Freund und Kollegen Giovanni Falcone. «Der Staat prozessiert gegen sich selbst» titeln die Tageszeitungen, denn an diesem Tag, es ist der 30. Oktober 2012, sitzt der italienische Staat zum ersten Mal in seiner Geschichte zusammen mit der Mafia auf der Anklagebank.
Vier Jahre lang ermittelten fünf Staatsanwälte die Hintergründe der Verhandlungen zwischen Vertretern des italienischen Staates und der Mafia: Für den Verzicht auf weitere Gewalt seien der Mafia nicht nur das Ende der Strafverfolgung, sondern auch politische Unterstützung garantiert worden. Drei italienische Politiker und drei hochrangige Carabinieri sind in Palermo angeklagt, mit fünf Mafiabossen verhandelt zu haben. Die drei Politiker sind: Senator Marcello Dell’Utri – zweimal als Gehilfe der Mafia verurteilt, rechte Hand, Vertrauter und Schlüsselfigur des politischen Aufstiegs von Silvio Berlusconi, der ehemalige christdemokratische Minister und heutige Abgeordnete Calogero Mannino sowie der ehemalige Innenminister Nicola Mancino. Zahlreiche Indizien lassen darauf schliessen, dass Paolo Borsellino von diesem Pakt erfuhr, sich ihm widersetzte und deshalb sterben musste.
Als Salvatore Borsellino den Parkplatz des Gefängnisses Pagliarelli überquert und die Stahltore des Hochsicherheitstrakts sich öffnen, skandieren einige Demonstranten «resistenza, resistenza» und halten rote, mit Schleifen in den italienischen Nationalfarben geschmückte Hefte hoch, auf denen «Paolo Borsellino. Der rote Taschenkalender» steht. Dieser Tag sei ein Sieg des anständigen Italiens – jenes Italiens, das die Vergangenheit enträtseln wolle, um die Gegenwart zu verstehen, ruft Salvatore Borsellino in die Mikrofone der Journalisten, bis er weitergeschoben wird, Richtung Gerichtsbunker. Der frühere Minister Nicola Mancino bahnt sich mit hochrotem Gesicht einen Weg durch die Journalistenmeute in den Gerichtssaal, ein groß gewachsener Mann im Trenchcoat. Salvatore Borsellino sucht seinen Blick. Er will ihm einmal in die Augen sehen, wenigstens das. Aber Mancino weicht seinem Blick aus.
Wo ist die rote Agenda?
Die Demonstranten vor dem Gefängnis sind für die Prozesseröffnung aus ganz Italien angereist, manche saßen zwölf Stunden im Bus – um hier im Regen zu stehen und «Die Mafia raus aus dem Staat» zu skandieren. Sie alle gehören der Antimafia-Bewegung «Agende rosse» an: Der rote Taschenkalender von Paolo Borsellino ist zum Symbol für den Kampf gegen die unheilige Allianz zwischen Mafia und Politik geworden, seitdem der Staatsanwalt in Palermos Via D’Amelio vor der Haustür seiner Mutter zusammen mit fünf Leibwächtern von einer Autobombe in die Luft gesprengt wurde. Der rote Taschenkalender, von dem Paolo Borsellino sich nie trennte und in dem er Begegnungen und Beobachtungen notierte, ist seit dem Attentat verschwunden, obwohl Borsellinos Aktentasche unbeschädigt auf dem Rücksitz seines Autos gefunden wurde und selbst die Ersatzbatterie seines Mobiltelefons in der Tasche unversehrt geblieben war.
Die Aktivisten der Bewegung «Agende rosse» glauben nicht an die romantische Idee von der heilenden Kraft der Kultur – als könne die Mafia besiegt werden wie eine Rechtschreibschwäche – sondern suchen mit Salvatore Borsellino nach der «roten Agenda» und damit nach der Wahrheit. Sie teilen die Erkenntnis, dass das Geheimnis des Überlebens der Mafia allein in ihrer Symbiose mit der Politik steckt. Es war Paolo Borsellino, der gesagt hat: «Politik und Mafia sind zwei Mächte, die das gleiche Territorium kontrollieren: entweder führen sie gegeneinander Krieg, oder sie einigen sich.» Eine Feststellung, die von den etablierten Parteien auch heute nicht gern gehört wird. Zumal deren Fundament zu bröckeln beginnt: Hinter den erstarrten Rücken der Politiker ist im Netz eine starke Opposition gewachsen, das «Movimento 5 stelle», eine Bewegung, die gegen Feinstaub und vorbestrafte Parlamentarier gleichermassen kämpft, gegen die Mafia und gegen die Privatisierung des Wassers – und die bei den bevorstehenden Wahlen bereits auf 20 Prozent geschätzt wird. Weshalb die traditionellen Parteien kurz vor den Wahlen gleichsam über Nacht die «moralische Frage» entdecken und beteuern, alles dafür zu tun, um nur Kandidaten ohne Vorstrafen aufzustellen.
Den jungen Italienern ist der Zynismus der herrschenden Klasse zuwider – sie wollen Antworten. Etwa von Giuseppe Ayala, einem ehemaligen Kollegen Paolo Borsellinos, der für die linksdemokratische Partei in die Politik gewechselt war. Als Borsellino ermordet wurde, war Ayala als einer der ersten am Tatort. Er ließ die Tür von Paolo Borsellinos Auto aufbrechen und die Aktentasche aus dem Auto entfernen. Es gibt sogar ein Foto von einem Carabiniere, der die Aktentasche in der Hand hält, sie an dem noch rauchenden Autowrack vorbeiträgt – sie wieder zurückträgt und sich später nicht mehr daran erinnern können will, wem er die Tasche gegeben hat. Der Carabiniere muss sich für den Verbleib des Kalenders später vor Gericht verantworten – und wird freigesprochen. Ayala gibt sieben verschiedene Versionen des Ablaufs. Als ein junges Mädchen der «Agende rosse»-Bewegung ihn zu seinen widersprüchlichen Aussagen befragt, sagt Ayala in Anspielung auf Salvatore Borsellinos Wahrheitssuche: «Auch Abel hatte einen Bruder.»
Die nie geklärten Hintergründe der Verhandlungen zwischen Mafia und Staat schweben seit zwei Jahrzehnten wie eine Giftwolke über Italien. Die Existenz der Verhandlungen wurde zwar bereits von einem Gericht in Florenz festgestellt, aber die politische Klasse ist auch heute nicht an einer umfassenden Aufklärung interessiert – die Wählerstimmen kosten kann. Viele Italiener empören sich, als bekannt wird, dass der ehemalige Innenminister Mancino den italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano angerufen hat, um ihn dringend dazu zu bewegen, die ermittelnden palermitanischen Staatsanwälte zurückzupfeifen. Mancino will auf keinen Fall noch einmal in Palermo verhört werden. Der juristische Berater des Präsidenten beruhigt Mancino: Er solle sich entspannt zurückzulehnen, dem Präsidenten liege sein Anliegen am Herzen, er werde sich weiter für ihn einsetzen. Alles werde dafür getan, dass die palermitanischen Staatsanwälte nichts erreichen würden.
Als dies bekannt wird, ruft Salvatore Borsellino den Staatspräsidenten auf, den Inhalt seiner Telefonate öffentlich zu machen. Das wird jedoch nicht nur rigoros abgelehnt, sondern zum Gegenstand einer weiteren Klage: Wider besseres Wissen – nicht Napolitanos Telefon, sondern das des verdächtigen ehemaligen Innenministers wurde abgehört – beschuldigt der Staatspräsident Palermos Staatsanwälte, ihn illegal abgehört zu haben.
Die Parteien versuchen zu retten, was zu retten ist und Stimmung gegen den Prozess zu machen. Antonio Ingroia, der ermittelnde leitende Oberstaatsanwalt, ein ehemaliger Zögling Paolo Borsellinos, wird der «Antipolitik» bezichtigt. Solange Ingroia noch die Mafiaprozesse gegen Berlusconis rechte Hand Marcello Dell’Utri führte, wurde er von der linksdemokratischen Presse als Held gefeiert – seitdem jedoch Staatspräsident Napolitano, der letzte Säulenheilige der Linken, durch Zufall in das Visier der Staatsanwälte geraten ist, herrscht Eintracht zwischen der linken Presse und der Berlusconis: In 95 Prozent der italienischen Medien ist nur noch von fanatischen, sich selbst überschätzenden Staatsanwälten die Rede. Ingroia wird sogar von der linksdemokratischen Richtervereinigung fallen gelassen. Um den Prozess zu schützen, beschliesst er nach Beendigung der Ermittlungen die Federführung abzulegen – und nach Guatemala zu gehen, wo er im Auftrag der UNO eine Antimafia-Ermittlungseinheit führen soll. Letzten Dezember kommt es zu einer überraschenden Wendung: Ingroia gründet eine Partei, die «Rivoluzione Civile» heisst und zieht in den italienischen Wahlkampf. Bei Umfragen wird seine Partei sehr schnell auf fünf Prozent geschätzt.
Das Schweigen der Hinterbliebenen
Mit Verwunderung beobachtet Salvatore Borsellino, wie viele Politiker, Journalisten und Richter sich plötzlich dazu berufen fühlen, als Siegelbewahrer des Vermächtnisses seines ermordeten Bruders aufzutreten. Vor allem, um festzustellen, dass Paolo Borsellino das Engagement seines Bruders Salvatore und der Staatsanwälte sicher nicht goutiert hätte. Von den Angehörigen von Mafiaopfern wird stets erwartet, dass sie ihren Schmerz still ertragen und selbst dann nicht widersprechen, wenn ihr Name von falschen Freunden benutzt wird.
Paolo Borsellinos Witwe Agnese und ihre drei Kinder haben lange geschwiegen. Sie haben sich aber gewehrt, als der als Gehilfe der Mafia verurteilte ehemalige Geheimdienstler Bruno Contrada behauptete, ein Freund Paolo Borsellinos gewesen zu sein. Vor Gericht wiederholte Borsellinos Witwe auch, was ihr Mann ihr kurz vor seiner Ermordung anvertraute: «Ich habe alles verstanden. Man wird mich umbringen, aber es wird kein Racheakt der Mafia sein. Die Ausführenden werden vielleicht Mafiosi sein. Aber diejenigen, die meinen Tod wollten, werden andere sein.»
Zehn Jahre lang hat auch Salvatore Borsellino geschwiegen. In den ersten fünf Jahren nach dem Attentat hatte er sich noch dafür eingesetzt, die Botschaft seines Bruders zu verbreiten: Er ging in Schulen und in Universitäten und versuchte sich damit zu trösten, dass sein Bruder doch etwas erreicht habe. Wenn nicht als Lebender, dann doch als Toter. Es war die Mutter, die die Geschwister gedrängt hatte, alles zu tun, um das Vermächtnis ihres ermordeten Bruders zu wahren: «Sprecht von der Mafia. Egal, ob ihr sie im Radio, im Fernsehen oder in den Zeitungen erwähnt: Hauptsache, ihr sprecht von ihr», hatte Paolo Borsellino stets gesagt. Er war überzeugt, dass die Mafia durch Repression allein nicht besiegt werden könne. Der Kampf müsse eine kulturelle und moralische Bewegung sein, die von jungen Italienern getragen würde: «Generationen, die empfänglich sind für den Geruch der Freiheit und angewidert vom Gestank des moralischen Kompromisses, der Gleichgültigkeit, der Nähe und folglich der Mitschuld.» Aber als die Mutter 1997 stirbt, ist Salvatore, als sei eine Verbindung gelöst worden. Als würde in der Leitung kein Strom mehr fließen. Salvatore Borsellino nimmt weder an den Gedenktagen für seinen Bruder und Giovanni Falcone teil noch an Antimafia-Diskussionen. Er setzt keinen Fuss mehr nach Sizilien.
Er sieht, wie sich wieder alles bestens fügt. Für die Mafia und für die Politik. Und hört, wie sowohl rechte als auch linke Politiker verkünden, dass nun endlich Schluss sein müsse mit dem Herumplagen mit der Mafiavergangenheit. Es gibt keine Antimafia-Fackelzüge mehr und keine Bettlaken, auf denen «Nieder mit der Mafia» steht. Die von allen Politikern gepriesene Normalität ist das Verdienst des neuen Gottvaters Bernardo Provenzano, der weiß, dass die Cosa Nostra nur dann überleben kann, wenn sie sich nicht gegen den Staat stellt, sondern wieder in ihn kriecht.
Die zwölf Forderungen der Mafia
Das Jahr 1992 war ein Schicksalsjahr. Für die italienische Politik. Und für die Mafia. Die üblichen Gewissheiten waren über Nacht verloren gegangen. Seit dem Fall der Mauer waren der Democrazia Cristiana das Gespenst des Kommunismus abhanden gekommen und den Kommunisten das Geld aus Moskau. In Mailand liefen die Schmiergeldermittlungen «Mani pulite», die nicht nur Sozialisten und Christdemokraten, sondern das gesamte italienische Parteiensystem in den Abgrund rissen. Unzählige Politiker und Industrielle wurden verhaftet. Die Mafia hatte keinen politischen Ansprechpartner mehr. Im Januar 1992 wurden die Urteile des von Falcone und Borsellino geführten «Maxiprozesses» in letzter Instanz bestätigt – und nicht aufgehoben, wie es die Mafia bisher gewohnt war. Zum ersten Mal ist der Mythos von der Unbesiegbarkeit der Mafia zerstört. Danach kam es zum Wendepunkt. Im März 1992 ermordete die Mafia erstmals einen ihrer Gönner: Salvo Lima, den ehemaligen christdemokratischen Bürgermeister von Palermo, Statthalter des Ministerpräsidenten Andreotti auf Sizilien. Lima wurde von zwei Killern vor dem Hotel Palace am Strand von Mondello niedergestreckt. Der Mord sollte für Andreotti ein Denkzettel sein: Er war jahrzehntelang von der Mafia mit Wählerstimmen für die Zusammenarbeit belohnt worden – und diesmal seiner Pflicht nicht nachgekommen, die Urteile des Maxiprozesses aufheben zu lassen. Nach der Ermordung von Andreottis Statthalter befürchteten einige christdemokratische Politiker, wie er zu enden, und versuchten alles, um die eigene Haut zu retten.
Bereits vier Jahre nach den Anschlägen enthüllten abtrünnige Mafiosi, dass die Bosse 1992 mit italienischen Politikern und hohen Beamten verhandelt und eine Liste mit zwölf Forderungen erstellt hatten, «papello» genannt, mit der sie das Ende der Terrorakte und Wählerstimmen anboten. Ihre Forderungen reichten von der Revision der Urteile des Maxiprozesses über die Abschaffung der Hochsicherheitshaft für Mafiosi und der Kronzeugenregelung bis zum Ende der Beschlagnahmung von Mafia-Gütern. Und sie wurden, wie es jeder aufmerksame Zeitungsleser verfolgen konnte, beflissen umgesetzt. Nicht nur von der Berlusconi-Regierung, sondern auch von den Linksdemokraten.
Später beginnt ein junger Staatsanwalt Ermittlungen zu den geheimen Auftraggebern der Mafia-Attentate aufzunehmen, wobei er Silvio Berlusconi und Marcello Dell’Utri, der «Mittäterschaft bei Anschlägen» verdächtigt. Die Ermittlungen werden eingestellt. Marcello Dell’Utri, Forza-Italia-Gründer und rechte Hand von Berlusconi wird jedoch in Palermo als Gehilfe der Mafia zu sieben Jahren Haft verurteilt. Über den Prozess gegen Marcello Dell’Utri berichtet allerdings kein italienischer Fernsehsender und kaum eine Tageszeitung. Die Mafia ist aus den Schlagzeilen verschwunden.
Im Jahr 2007 pilgert Salvatore Borsellino auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Er will den Weg mit seinem Bruder machen. Bevor er aufbricht, lässt er sich einen Pilgerpass für sich und für Paolo Borsellino ausstellen. Der Pilgerpass berechtigt zur Übernachtung in den Pilgerherbergen und zur Erlangung der Pilgerurkunde. Wenn Salvatore Borsellino seinen Pilgerpass und den seines toten Bruders vorlegt, fangen die Leute an zu weinen.
Nach seiner Rückkehr beschliesst er, sein Schweigen zu brechen. Jetzt ist es aber nicht mehr die Hoffnung, die ihn antreibt. Sondern die Wut. Bei der Gedenkveranstaltung am Todestag seines Bruders in der Via D’Amelio erträgt er es nicht, die Politiker zu sehen. Ihm ist, als blicke er in die Gesichter von Mördern, die an den Tatort zurückkehren, um sich zu versichern, dass ihr Opfer wirklich tot ist. Als er sieht, wie der Generalsekretär der Berlusconi-Partei einen Kranz niederlegen will, empfiehlt er ihm, den Kranz wieder mitzunehmen und stattdessen auf dem Grab Vittorio Manganos niederzulegen, dem Mafia- Boss, der in Berlusconis Villa lebte und von Berlusconi und dessen Freund Dell’Utri als «Held» bezeichnet wird, weil er bis zu seinem Tod schwieg.
Borsellino wird aktiv
Als pensionierter Informatikingenieur lebt Salvatore Borsellino im Netz. Er hat Ermittlungsakten, die Aussagen abtrünniger Mafiosi und ehemaliger Kollegen von Paolo Borsellino gelesen, er liest Gerichtsurteile, Artikel, Protokolle, die seinen Verdacht erhärten, dass sein Bruder von der Existenz der Verhandlungen zwischen Staat und Mafia erfahren und sich ihr widersetzt hatte. Im Jahr 2007 erscheint das Buch «Der rote Taschenkalender von Paolo Borsellino», in dem zwei sizilianische Journalisten minutiös belegen, wie die Mafia das Attentat auf Geheiss «fehlgeleiteter» Geheimdienste ausführte – weshalb der rote Taschenkalender verschwinden musste. Bald darauf veröffentlicht Salvatore Borsellino auf seiner Webseite www.19luglio1992.com einen offenen Brief mit dem Titel «Ein staatliches Massaker»: Er fragt, warum es kein Halteverbot vor der Haustür seiner Mutter gab, obwohl jeder wusste, dass Paolo Borsellino dreimal pro Woche dort vorbeikam. Warum die Ermittlungen um die geheimen Auftraggeber der Anschläge gegen Giovanni Falcone und Paolo Borsellino eingestellt wurden. Warum die Ermittlungen rund um den Geheimdienst eingestellt wurden. Warum sich der ehemalige Innenminister Nicola Mancino nicht mehr daran erinnern will, seinen Bruder kurz vor seiner Ermordung getroffen zu haben. Warum er ihn zwei Tage vor seinem Tod angerufen hat, um ihn zu einem Treffen mit zwei Polizeichefs zu bewegen, einem davon der Geheimdienstchef, der später als Gehilfe der Mafia verurteilt wird – ein Treffen, das, wie ein Zeuge berichtet, Paolo Borsellino so erschütterte, dass er nicht einmal merkte, wie er zwei Zigaretten gleichzeitig anzündete. «In dieser Unterredung befindet sich sicherlich der Schlüssel für das Blutbad in der Via D’Amelio», schreibt Salvatore Borsellino.
Der Gedenktag 2008 ist anders. Mit Salvatore Borsellino sind Tausende junge Leute aus ganz Italien nach Palermo in die Via D’Amelio gekommen, die seine Wut teilen. Sie halten rote Taschenkalender mit Paolo Borsellinos Namen hoch und marschieren auf den Monte Pellegrino, zum Castello Utveggio, dem ehemaligen Sitz des Geheimdienstes. Sie kommen jedes Jahr wieder und werden immer mehr.
Langsam dringt Licht in das Dunkel. Im Jahr 2008 nimmt die Staatsanwaltschaft Palermo die Ermittlungen über die «Trattativa» auf, die Verhandlungen zwischen Staat und Mafia. Dank der Aussage des Mafia-Aussteigers Gaspare Spatuzza muss das Urteil gegen die mafiosen Attentäter des Staatsanwalts Paolo Borsellino revidiert werden, weil einige Kronzeugen keine waren und auf Drängen des Polizeichefs falsche Aussagen gemacht haben. Der Prozess wird wieder aufgenommen.
Schliesslich sagt der abtrünnige Mafioso Spatuzza auch noch im zweitinstanzlichen Verfahren gegen Berlusconis Vertrauten Marcello Dell’Utri aus. Er beschreibt, wie euphorisch die Bosse gewesen seien, nachdem sie über Marcello Dell’Utri die Verbindung zu Silvio Berlusconi geknüpft hatten: Die Verhandlungen zwischen Staat und Mafia seien nun endlich zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen, man habe das Land in der Hand, dank eines sizilianischen Landsmannes und «dem von Canale 5», eben, Berlusconi.
Und auch Massimo Ciancimino beginnt zu auszusagen. Er ist der Sohn des Mafiosos Don Vito Ciancimino, des ehemaligen Bürgermeisters von Palermo. Massimo Ciancimino begleitete seinen Vater bei all seinen Schritten, er war sein Sekretär und Sendbote. Er überbrachte Botschaften zwischen seinem Vater, Mafiabossen und hochrangigen Beamten – und sagt nun über die Verhandlungen aus, die sein Vater 1992 mit hochrangigen Carabinieri führte – nicht zuletzt in der Hoffnung, dass sich sein Einsatz günstig auf eine ihm drohende Gefängnisstrafe auswirken würde. Don Vito war es, der dafür sorgte, dass der Boss Totò Riina 1993 festgenommen werden konnte: Riina war das Bauernopfer der Verhandlungen zwischen Staat und Mafia. Seine Festnahme sollte die Italiener besänftigen, zumindest vorübergehend: Seht her, der italienische Staat ist noch nicht geschlagen!
Kurz darauf wurde allerdings Don Vito Ciancimino selbst verhaftet. Er war überflüssig geworden, als Christdemokrat verkörperte er das alte Parteiensystem, jenes, dass mehr zum Totenreich als zur Zukunft gehörte. Also ging die Strategie des Terrors weiter: Im Sommer 1993 folgten weitere Attentate, Cosa Nostra legte Bomben in Florenz in der Via Georgofili unweit der Uffizien, in Rom gegenüber von der Kirche San Giorgio al Velabro, in Mailand in der Via Palestro, unweit der Galerie für Moderne Kunst. Gleichzeitig begann nun die zweite Phase der Verhandlungen mit dem Staat – mit der rechten Hand von Silvio Berlusconi: dem Forza-Italia-Gründer und späteren Senator Marcello Dell’Utri. Ein Sizilianer. Er sei von der Cosa Nostra ausgesucht worden, weil er bereits die Gelder des Bosses Stefano Bontade erfolgreich investiert habe – in Silvio Berlusconis Unternehmen Fininvest. Schon Giovanni Falcone und Paolo Borsellino hatten Dell’Utri im Visier – als Brückenkopf der Mafia in Norditalien. Im letzten Fernsehinterview vor seiner Ermordung sprach Paolo Borsellino über Vittorio Mangano, den Mafioso, der auf Vermittlung von Marcello Dell’Utri als sogenannter «Stallmeister» in Berlusconis Villa lebte. Eine Villa, in der es zwar keine Pferde gab, aber doch sehr viele zu pflegende Interessen.
Auch wenn Massimo Ciancimino wiederholt dafür kritisiert wird, die Beweise für seine Aussagen nur tröpfchenweise zu liefern und die Namen einiger Geheimagenten immer noch zu verschweigen, decken sich seine Aussagen doch mit zahlreichen Aussagen abtrünniger Mafiosi – und bringen zahlreiche Beteiligte dazu, ihr jahrzehntelanges Schweigen zu brechen. Plötzlich erinnern sich sowohl der einstige Präsident der parlamentarischen Antimafiakommission, eine hohe Beamtin des Justizministeriums und der ehemalige Justizminister Claudio Martelli daran, bereits kurz nach dem Anschlag auf Giovanni Falcone von den Verhandlungen zwischen Staat und Mafia erfahren zu haben. Der ehemalige Justizminister sagt aus, er habe dem damaligen Innenminister Nicola Mancino gegenüber seine Verwunderung ausgedrückt darüber, wie ein Beamter einer Spezialeinheit der Carabinieri auf die Idee kommen könne, Verhandlungen mit der Mafia aufzunehmen – und die nationale Anti-Mafia-ermittlungsbehörde nicht davon zu informieren.
Der ehemalige Innenminister Nicola Mancino leugnet jedoch unerschütterlich, von der Existenz der Verhandlungen zwischen Staat und Mafia erfahren zu haben. Woraufhin er von der Staatsanwaltschaft Palermo der Falschaussage bezichtigt und sein Telefon abgehört wird, weil er im Verdacht steht, seine Aussagen mit anderen Verdächtigen abzusprechen.
Über die Verwendung von Massimo Cianciminos Aussagen entzündet sich ein Glaubenskrieg. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch Salvatore Borsellino werden dafür hart kritisiert. Paolo Borsellino würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, dass sein Bruder den Aussagen von Don Vito Cianciminos Sohn Glauben geschenkt habe, stellt der Sohn eines ebenfalls von der Mafia ermordeten Staatsanwalts fest. «Leider kann sich mein Bruder nicht im Grabe umdrehen», sagt Salvatore Borsellino, «denn er wurde in Stücke gerissen.»
«Der Sprengstoff für mich ist angekommen»
Jedes Mal, wenn Salvatore Borsellino nach Palermo kommt, sucht er nach seiner Kindheit. Er findet sie in den Pflastersteinen der Altstadt, im Tuffstein der Palazzi und in Palermos roter Erde, die nach Afrika riecht, wenn es regnet. Wenn Salvatore Borsellino durch die Strassen geht, kommen Menschen auf ihn zu, die ihm bewegt die Hand schütteln und ihn anblicken, als sei er ein Wiedergänger.
Die Brüder Borsellino wuchsen unweit der Piazza Magione auf, in der Kalsa, einem volkstümlichen Viertel, wo sie inmitten schwindsüchtiger Barockpalazzi, verfallener Adelsresidenzen und Kriegsruinen spielten. Bis vor kurzem konnte man hier Palermo in den Schlund blicken: Die Häuser standen seit den Bombenangriffen der Alliierten im Jahr 1943 mit eingeschlagenen Schädeln da. Heute sind die Ruinen dank europäischer Fördergelder wieder aufgebaut, die Palazzi frisch verputzt, und wo früher Kesselflicker und Scherenschleifer ihre Werkstätten betrieben, haben sich Bed & Breakfasts und Lounges eingenistet.
Am Ende der Piazza Magione befindet sich auch heute noch die Schule der beiden Brüder. Da, wo früher die Apotheke war, die von den Eltern Borsellino betrieben wurde, fliegen noch Funken, ein Schmied hat hier seine Werkstatt, wird aber demnächst ausziehen. Salvatore Borsellino will eine Begegnungsstätte einrichten, die den Namen seines Bruders tragen soll.
Salvatore ging nach Mailand, kaum dass er sein Studium beendet hatte. er ertrug es nicht zuzusehen, wie die Mafia in den Siebzigerjahren Palermos Gesicht mit einer gigantischen, mafiosen Bauspekulation verwüstete, die «sacco di Palermo» genannt wurde: die Plünderung Palermos. Über Nacht wurden Adelspaläste und Jugendstilvillen mitsamt ihren Irrgärten, Laubengängen und Springbrunnen dem Erdboden gleich gemacht, auf den Grundstücken errichtete die Mafia ihre Betonsilos. Arbeit fand nur derjenige, der einen «Heiligen im Paradies» kannte: Jemanden, der eine Gefälligkeit erweisen konnte, die wiederum mit einer Gefälligkeit belohnt werden musste. Paolo Borsellino wünschte sich, dass der Jüngere wieder zur Familie nach Palermo zurückkehrt, er machte sich Sorgen, weil sein Bruder auf eine feste Stelle verzichtet und in Mailand ein Informatikunternehmen gegründet hatte. Wenn sie telefonierten, nannte Paolo seinen Bruder Salvatore bei dessen Kosenamen, fragte: «Totò, warum kommst du nicht nach Palermo zurück?» und warf ihm mangelnde Liebe zu seiner Heimatstadt vor.
Die letzten Ferien, die die Brüder miteinander verbrachten, waren die Weihnachtsferien 1991/1992. Sie trafen sich im Trentino, allerdings musste Paolo bereits früher als geplant abreisen: In der Silvesternacht war es zu einem Mafia-Massaker gekommen. Nachdem die Mafia im Mai 1992 Giovanni Falcone, seine Frau und drei Leibwächter ermordet hatte, arbeitete Paolo Borsellino Tag und Nacht. Er wollte wissen, warum sein Freund sterben musste. obwohl er kein Mandat für diese Ermittlungen hat, befragte er Augenzeugen, Kollegen, Polizisten, Carabinieri und Kronzeugen, er führte in Rom sogar mit Ministern Gespräche und protokollierte alles in seinem Kalender. Er wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb: «Der Sprengstoff für mich ist schon angekommen», vertraute er Kollegen an. Jeder in der Familie, seine Frau, seine Kinder, auch sein in Mailand lebender Bruder Salvatore, spürte die Gefahr, in der sich Paolo Borsellino bewegte.
Als er zwei Tage vor seinem Tod zum letzten Mal mit ihm telefoniert, versucht Salvatore seinen großen Bruder zu überzeugen, aus Palermo wegzugehen.
«Wenn du bleibst, bringen sie dich um», sagt Salvatore.
«Du bist abgehauen aus Palermo. Aber ich haue nicht ab.», sagt Paolo.
Am Tag nach der Prozesseröffnung sitzt Salvatore Borsellino in einem Café am Strand von Mondello. Vor Kurzem hat er sich hier eine Wohnung gekauft – weil Mondello immer noch so aussieht wie in den Fünfzigerjahren, als er mit seinem Bruder hierherkam und bis zum leuchtturm wanderte, mit dem Fahrrad auf der Schulter.
«Für mich ist es so, als hätte ich ein Versprechen eingelöst», sagt Salvatore Borsellino, «Ich bin zurückgekommen.»
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