Smart Move

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Gestern, als ich an meinem Manuskript herumfummelte und wie gewöhnlich im Hintergrund das Radio lief (Ich brauche zur Inspiration immer so ein Grundrauschen um mich herum, deshalb schreibe ich auch gerne in Hotelhallen oder in Zügen), hörte ich, wie schätzungsweise siebzigmal in sechzig Minuten auf Radio Capital (das mal mein Lieblingsradio war, jetzt aber leider voll durchrenzisiert ist: Radio Capital gehört wie die gesamte Espresso-Repubblica-Pressegruppe dem italienischen Industriellen – mit Schweizer Pass, zur Sicherheit – Carlo De Benedetti, der das Sprachrohr der PD etabliert hat) vom europäischen Parlament und von den Fünfsternen die Rede war.

Mann, was ist da los?, fragte ich mich, haben die Abgeordneten der Fünfsterne das europäische Parlament gekapert? Peitschen sie Martin Schulz aus? Ist Virginia Raggi mit blutverschmiertem Mund im europäischen Parlament aufgetaucht und frisst kleine, unschuldige europäische Kinder? Ich habe aber dennoch ungerührt weitergeschrieben, weil das Fünfsterne-Bashing (In der Art: „Starke Schneefälle in ganz Italien – nur nicht in Rom: Ermittlungen gegen Virginia Raggi“) inzwischen zur italienischen Presse gehört wie der Wetterbericht. Oder wie der Mafioso Marcello Dell’Utri zu Berlusconi. (Übrigens war in den italienischen Radios oder Fernsehnachrichten nie davon die Rede, dass Marcello Dell’Utri eine Zeit lang Mitglied im Justizausschuss (!!) des Europäischen Parlaments war.)

Später am Abend war die Hauptmeldung (!!) sämtlicher italienischer  Fernsehnachrichten, ja was: Dass die Fünfsterne-Bewegung im europäischen Parlament die Fraktion wechseln will.

Ist ja nicht so der Aufreger, dachte ich. Eher banal. Staubtrockene Wikipedia-Materie.

Um das mal kurz zu erklären: Im europäischen Parlament müssen sich die Parteien einer politischen Fraktion anschließen, wenn sie im europäischen Parlament etwas erreichen wollen. Dazu Wikipedia:

Die Konstituierung als Fraktion bringt den Abgeordneten verschiedene Vorteile, insbesondere weitere finanzielle Zuwendungen und ergänzende parlamentarische Rechte wie etwa die Möglichkeit zur Einbringung von Beschlussvorlagen.

Fraktionslose EU-Parlamentarier können also praktisch nichts erreichen. Die Fünf-Sterne haben sich 2014 der Gruppe EFDD (Europe of Freedom and Direct Democracy) um den Ukip mit Farage angeschlossen, nachdem die Grünen (leider vor allem die deutschen Grünen) es abgelehnt haben, die Fünfsterne in ihrer Fraktion aufzunehmen. In der Zeit in der Fraktion mit Farage gab es nur wenige Gemeinsamkeiten, sie haben nur 20 Prozent aller Abstimmungen geteilt, was, laut Wikipedia auch kein Problem wäre, weil:

Im Europäischen Parlament ist die Fraktionsdisziplin deutlich geringer ausgeprägt als in den meisten nationalen Parlamenten in der EU. Dies bewirkt, dass es traditionell häufig zu einem uneinheitlichen Abstimmungsverhalten innerhalb der Fraktionen kommt, da etwa einzelne Abgeordnete oder Landesgruppen vom Mehrheitsverhalten der Fraktion abweichen.

Jetzt aber, nachdem Farage infolge des Brexit praktisch raus ist, weil Ukip sein politisches Ziel erreicht hat, hatte es für die Fünf-Sterne keinen Sinn mehr, in dieser Gruppe zu bleiben. Zumal die Fünfsterne-Bewegung anders als Ukip nie anti-europäisch war, sie will lediglich eine Volksabstimmung über den Verbleib Italiens in der Euro-Zone. Also hat Grillo auf seinem Blog darum geworben (und die Mehrheit der Fünfsterne-Mitglieder hat dies laut Abstimmung für richtig gehalten) zur Gruppe ALDE (Alliance of Liberals and Democrats of Europe) zu wechseln.

Im Grunde ein kluger Schachzug. Zumal die Fraktion ALDE mit den Fünfsterne-Abgeordneten zur drittstärksten Fraktion avancieren würde. Und das macht natürlich Angst. Genauer gesagt: Panik – bei den Gegnern der Fünfsterne-Bewegung. Bis jetzt konnte immer noch die Populismus-Keule geschwungen werden. Sobald von den Fünfsternen die Rede war, hieß es: Spielt nicht mit den Schmuddelkindern, das sind die Bösen, die kungeln mit Farage, die wollen die EU kaputtmachen. Jetzt würde dieses Argument wegfallen – und noch viel schlimmer: Es droht die Gefahr, dass die Fünfsterne Allianzen eingehen könnten, sogar mit etablierten Parteien (die Gruppe ALDE wird von Guy Verhofstadt geleitet). Schnappatem.

Als die Fünfsterne in die Gruppe mit Farage eintraten, hieß es: Faschisten! Populisten! Kapitalisten! Und jetzt, wo die Fünfsterne zur Gruppe ALDE wechseln wollen, heißt es: Faschisten! Populisten! Kapitalisten!

In Italien trommeln Repubblica&Corriere&LaStampa (siehe Foto), was die Propaganda hergibt und via copy&paste auch die anderen Medien erreicht. Und ich hätte gar nichts darüber geschrieben, wenn mich eine deutsche Freundin nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, dass sich der Guardian bereits mit copy&paste hervorgetan hatte. Unsere tägliche Populismuskeule gib uns heute. Unvermeidlich der Satz: „A comedian turned politician„. Aber weil die Leser nicht so blöd sind, wie viele Redaktionen es sich wünschen, fand sich auch dieser Kommentar:

The article, again, as always in the Guardian (and any establishment media), is wrong and misleading about the reasons the Five Stars Movement joined the UKIP group in 2014. This is very annoying, but I will do what this newspaper should do: tell the facts, not invent them.

The Five Star Movement entered the European Parliament for the first time in 2014 and the only reason they joined UKIP is that technically they did not have any other reasonable choice: being in the European Parliament without a group means you cannot do anything, you actually do not exist (you don’t get funds, you are not scheduled for debates etc). And the Five Star Movement did not have enough MEPs to create a group of their own. They asked to join the Green Party group, and they refused! So they could only join UKIP (that accepted), agreeing with a complete freedom of vote. They only voted with UKIP on about 20% of the votations.

 

Jetzt zähle ich mal bis, sagen wir, drei, und wir werden die Überschriften der Repubblica und La Stampa in der Süddeutschen und vor allem auf Spiegel-online nachlesen können. So viel zu #FakeNews.

2 Kommentare

  1. Die italienischen Verhältnisse sind für mäßig interessierte Nordalpine allerdings auch kaum zu begreifen. Wenn ich Leuten hier weit ausholend von Cosa Nostra, P2, Sindona, Trattativa, Andreotti, Dell’Utri, Berlusconi, … erzähle, kann und will mir auch niemand so recht folgen. Es ist viel zu komplex – und viel zu unheimlich. Dass als Konsequenz dieser unfassbaren Skandale in Italien, vor allen Dingen junge, hochanständige und auch verzweifelte Menschen eine Bewegung wie die M5S herbeigesehnt haben, liegt jenseits des handelsüblichen Horizonts. Und dass die “Etablierten“ in Europa (Medien, Meinungsmacher, Mächtige) keinerlei Interesse haben, eine solche Bande von Störenfrieden hoffähig werden zu lassen, liegt auf der Hand.

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