Postfaktische Funksignale (Populismus 1)

Eins muss ich noch loswerden, bevor sich das Jahr zu Ende neigt. Die Geschichte mit dem „Populismus“, dem „Postfaktischen“ und dem „Narrativ“, aargh.

(Gott sei Dank bin ich mit meiner Narrativ-Allergie nicht allein, Hermann Unterstöger hat auch etwas gegen den Narrativ und so) Also: Der Narrativ ist eine Hülse, ein Scheißdreck – würde jetzt an dieser Stelle der von mir sehr geschätzte, in seiner Branche aber unbeliebte und auch unterbezahlte Wolfgang W. Wieneke sagen. Und wo der Narrativ ist, darf der  „Populismus“ nicht fehlen- meist in Zwangskoppelung mit dem „Postfaktischen“. Zuletzt heute morgen in der Repubblica. Gerne auch in der Kombination des „postfaktischen Narrativs des Populismus“.

fullsizeoutput_3cb9

In Italien wabert der Populismus-Vorwurf schon lange herum: Nicht erst seit Beppe Grillo die Fünfsterne-Bewegung gründete, wird die Populismuskeule hier nahezu täglich geschwungen – immer jedoch gegen diejenigen, die gerade nicht mitspielen dürfen, wenn es um die Macht geht. Was einmal die Lega war, dann die sogenannten girotondisti (die „Ringelreihen“ genannten Demonstrationen gegen Berlusconi), später die Partei des ehemaligen Staatsanwalts Antonio Di Pietro, die extreme Linke und eben jetzt die Fünfsterne-Bewegung. (Wenn jemand wie Berlusconi der Fünfsterne-Bewegung vorwirft populistisch zu sein, ist das ungefähr so, als würde ein Fleischesser einem Vegetarier vorwerfen, Salatblätter zu ermorden)

Aber in den letzten Monaten hat der Populismus-Vorwurf eine kometengleiche Karriere auch außerhalb von Italien hingelegt, nach Trump&Brexit und den Erfolgen der AfD schwingt auch die deutsche Presse die Populismuskeule. In den Jahresrückblicken der Tageszeitungen fehlt er ebensowenig wie in den Vorausschauen in das neue Jahr und in den Prognosen der Zukunftsforscher. Und dann das schöne Wort „postfaktisch“, haha, auf Italienisch „post-verità“, auf Englisch „post-truth“, und sogar in Frankreich ist die postfaktische Ära mit der „Ère post-factuelle“ angebrochen. (Hier übrigens ein sehr interessanter, tendenziöser, wie ich finde französischer Wikipedia-Eintrag dazu). Nachdem post-truth vom Oxford Dictionary zum Wort des Jahres ernannt wurde, wollten die Deutschen nicht nachstehen, zumal Angela Merkel es doch selbst gebraucht hatte: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen.“

Ich hatte mal einen französischen Freund, der jeden Deutschen, der bei Rot an der Fußgängerampel stehen blieb, als Faschisten bezeichnete. Das war damals so, in den Achtzigerjahren, da war alles irgendwie fascho (un peu facho), was nicht links war. Fiel mir wieder ein, als ich neulich im ZDF den Film „Die Wutbürger – Europa und die Populisten“ sah (leider nicht mehr online). Als populistisch werden bezeichnet: Die Fünfsterne-Bewegung, die deutsche AfD, die spanische Podemos, der französische Front National, die polnischen Nationalisten, Tsipras in Griechenland, die ungarischen Rechten, die englischen Brexit-Wähler und natürlich Trump. Mal ganz abgesehen davon, dass die Fünfsterne-Bewegung nichts mit der AfD gemein hat, geschweige denn mit dem Front National, reicht es aber, sie in einem Atemzug zu nennen, um in der nächsten Talkshow damit groß rauszukommen.

Populisten leben natürlich in postfaktischen Zeiten, lassen sich von ihren (dumpfen) Gefühlen, beziehungsweise von Algorithmen leiten. „When they go low, we go high“. Ziemlich schlichte Menschen – so wie sie der französische Soziologe Didier Eribon in seinem schönen Buch „Die Rückkehr nach Reims“ beschrieben hat: Eribon ist in einer französischen Arbeiterfamilie aufgewachsen und hat es dennoch geschafft, eine brillante wissenschaftliche Karriere hinzulegen: „Dennoch“, weil die intellektuelle Szene Frankreichs mit ihren Eliteschulen Arbeiterkindern so gut wie nie zugänglich ist. Eribon beschreibt das sehr schön – und auch ehrlich, was die Verdrängung seiner Herkunft, seine „soziale Scham“ betrifft. In der ZEIT ist ein gutes Interview mit ihm zu lesen. Hier auch ein interessantes Gespräch (runterscrollen bis nach den Fotos!) zwischen Didier Eribon und Thomas Ostermeier.

Ich habe das Buch auch aus autobiografischen Gründen gelesen – wie Eribon bin auch ich in einer Arbeiterfamilie groß geworden, mein Vater war Bergmann und ist früh „unter Tage“, wie das so schön heißt, ums Leben gekommen. Mit meiner Familiengeschichte habe ich mich unter anderem in meinen autobiografischen Büchern „Ein Land so weit“ und „Meine Mutter und ich“ auseinander gesetzt. Das ist aber nicht die einzige Gemeinsamkeit. Als ich das Buch las, erinnerte ich mich an einen Nachmittag letzten Spätsommer, als mein SPD-Onkel, den ich schon mal in der ZEIT verewigt habe, eine gewisse, ich will nicht sagen, Sympathie, aber immerhin doch ein gewisses Verständnis für die Positionen der AfD äußerte: Die Flüchtlinge, sagte er, seien doch ganz im Interesse der Unternehmer, weil man so die Löhne noch mehr drücken könne. Aus seiner Sicht (mein Onkel war erst Bergmann, dann Fabrikarbeiter) war diese Feststellung ziemlich logisch. Nicht, dass er deshalb das nächste Mal AfD wählen würde, das halte ich für ausgeschlossen. Aber dass er, als überzeugter und auch stolzer (!) Sozialdemokrat zumindest ein Verständnis für die Positionen der AfD äußerte, hat mich überrascht.

Ähnlich wie Didier Eribon, dessen Familie immer kommunistisch gewählt hatte – bis der Front national auftauchte. Deshalb ist Eribons Buch vor allem eine Anklage an alle, die sich mal als links verstanden – und die sich heute über die „postfaktisch“ indoktrinierten Massen erheben, die sich der „Vernunft“ nicht beugen wollen:

„Als ich auf das Gymnasium ging und ein trotzkistischer Linker war, wurde mein Vater nicht müde, gegen „die Studenten“ zu wettern, „die alles besser wissen“ und die „schon in zehn Jahren zurückkommen“ würden, „um uns zu regieren“ (…) Wenn ich aber sehe, was aus denen geworden ist, die sich damals am Mythos des proletarischen Aufstands berauschten und den Bürgerkrieg predigten, wie könnte ich da behaupten, dass mein Vater falsch lag? Sie sind genauso selbstsicher und vehement wie früher, verurteilen heute jedoch (mit wenigen Ausnahmen) all das, was auch von weitem nach einem Protest der „populären Klassen“ aussieht. Diese Leute haben erreicht, was ihnen gesellschaftlich versprochen war. Sie sind geworden, was sie werden sollten und haben sich dabei von der selbsterklärten Avantgarde der Arbeiter (die sie für zu schüchtern, zu „verbürgerlicht“ hielten) in deren Feinde verwandelt.

Und etwas weiter schreibt er etwas, was genau so auch nicht nur für Frankreich und Italien, sondern für die gesamte europäische Linke zutrifft:

Die sozialistische Linke unterzog sich einer radikalen, von Jahr zu Jahr deutlicher werdenden Verwandlung und ließ sich mit fragwürdiger Begeisterung auf neokonservative Intellektuelle ein, die sich unter dem Vorwand der geistigen Erneuerung daranmachten, den Wesenskern der Linken zu entleeren. Es kam zu einer regelrechten Metamorphose des Ethos und der intellektuellen Koordinaten. Nicht mehr von Ausbeutung war die Rede, sondern von „notwendigen Reformen“ und einer „Umgestaltung der Gesellschaft“.

Das finde ich wirklich bemerkenswert: Dass die vermeintliche Linke dank des „Konsens‘ der Mitte“, der „Sozialpartnerschaft“, den „großen Koalitionen“ in ganz Europa tot ist. Und alles, was jetzt entsteht, als populistisch abtut:

Tatsächlich sind es die Parteien der Mitte, die jede Gruppe, die den Status quo hinterfragt, als Populisten abtun. Das ist sehr praktisch für diese Parteien.

Das sagte die Politologin und Professorin Chantal Mouffe: Das System der Mitte kollabiert. Und sie sagte auch:

Politik muss parteiisch sein, sie muss Grenzen schaffen zwischen „uns“ und „denen“.

In Italien gab es zwanzig Jahre lang eine große Koalition zwischen den ehemals Linken und Berlusconi, die noch heute andauert, in Deutschland hat Angela Merkel einer Gottesanbeterin gleich die Positionen der Linken und der Grünen aufgefressen, in England begann der Niedergang mit Blair und in Frankreich mauscheln die Linken seit ewigen Zeiten mit den Gaullisten (die sie einst als „un peu facho“ bezeichneten)

Das alles und noch viel mehr sollte man bedenken – bevor man das nächste Mal mit der Populismuskeule um sich schlägt.

 

Und jetzt Schluss! Und ein frohes neues Jahr, trotz alle dem! Still alive and kicking, das ist doch das Wichtigste!

img_3652

3 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert