Venedig, Kafka und seine dienstälteste, lebende Witwe.

Aber ich wurde dafür belohnt, mich heute an der Seufzerbrücke vorbei über die Riva degli Schiavoni zum Hotel Gabrielli-Sandwirth vorgekämpft zu haben. Denn dort wurde eines kleinen, eigentlich auch traurigen Geschehnisses gedacht: Heute vor genau hundert Jahren schrieb Franz Kafka in diesem Hotel einen Abschiedsbrief an seine Geliebte Felice. (Ein glückloser Abschiedsbrief, denn im Jahr darauf fand die Verlobung statt. Die dann auch wieder gelöst wurde. Glücklos ging es weiter bis 1917.)

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Ulrich Tukur las den Brief eindrucksvoll vor, Kafkas dienstälteste, lebende Witwe, vulgo Klaus Wagenbach erläuterte, wie es zu dem Fund dieses Briefes kam, lästerte schön über die Humorlosigkeit deutscher Germanisten, erzählte einiges über Kafkas Reise, sein Leben und die Beziehung zu Felice Bauer, bemerkte, dass der sparsame Kafka vermutlich im Mezzanin gewohnt haben musste, denn wie anders sollte es möglich gewesen sein, dass ein Gondoliere in sein Zimmer schaute – wie er es seinem Freund Max Brod mitteilte? Ich fragte mich prosaischerweise, wie es dieser Gondoliere geschafft hat, in ein schätzungsweise zwei Meter fünfzig hochgelegenes Fenster im Mezzanin zu blicken, und ob der zartbesaitete Kafka, der schon darüber klagte, auf der kurzen Fahrt von Triest nach Venedig seekrank geworden zu sein, es heute in einem Vaporetto aushalten würde. Vermutlich eher nicht.

Das Gabrielli-Sandwirth ist übrigens seit fünf Generationen in Familienbesitz, eine Insel der Ruhe. Als ich auf der Dachterrasse stand und auf das Ufer, das Markusbecken und auf San Giorgio blickte, dachte ich: Venedig könnte so schön sein.

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