Anything goes?

Hochverehrte Leser! Ist Ihnen bewusst, dass dieser Blog in diesem Monat seinen zehnten Geburtstag feiert – und damit praktisch aus der Zeit stammt, als man noch mit Faustkeilen bloggte? (Demnächst ziehe ich in ein Loft, Schluss mit dem Leben zwischen Raufasertapeten und Flokati, schwanke noch zwischen unverputztem Beton und Wandteppichen)

 

Photo by Florian Klauer on Unsplash

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Beim Herumklicken habe ich etwas gefunden, das mich umtreibt, seitdem ich mal in einem Interview den Satz „Es geht hier doch auch um Moral“ ausgesprochen habe und merkte, wie mein Gegenüber zusammenzuckte. Denn wenn man so wie ich in dem Regal mit den blutigen Umschlägen gelandet ist, zwischen „Entspannungsromanen“, bei denen wir demnächst das Ende bestellen können, das uns behagt, ist Moral der Killer schlechthin. Der Partypupser.

Der Krimi-Leser, so viel meint man in den Marketingabteilungen zu wissen, will kleingehäckselte Leichen, vielleicht auch austernschlürfende Kommissare oder den netten Psychopathen von nebenan, aber bloß keine Moral. Die ist vielleicht was für die Leser von Hochliteratur, aber nicht für Romane, die von der Mafia handeln, schließlich kann die Supermarktkassiererin ja auch nichts mit Shakespeare anfangen, oder?

Und vielleicht sagen Sie sich jetzt auch: Och, nee Moral, muss das sein, uns reicht schon #metoo. Aber wenn die Welt an dieser Diskussion über etwas eigentlich Selbstverständlichem festklebt wie an einer Fliegenfalle, scheinen wir uns, was Moral, Haltung oder Werte betrifft, immer noch nicht wesentlich von Primaten unterscheiden.

Und deshalb fand ich interessant, wie der israelische Schriftsteller Abraham B. Jehoschua in seinem Aufsatz schreibt:

Seit langem beschäftigt mich die Beziehung zwischen der Kunst – insbesondere Literatur, Theater und Film – und dem, was wir Moral, Ethik oder Werte nennen. Mittlerweile findet man in Kritiken kaum mehr einen direkten Verweis auf die moralischen Fragen, die ein Werk aufwirft, auf die diesbezügliche Einstellung des Autors oder das Werteverständnis, das sich im Verhalten der Figuren spiegelt.

Ebenso selten protestiert ein Leser gegen den moralischen Standpunkt, den ein Charakter in einem Buch oder dessen Autor einnimmt, oder stellt diesen zumindest infrage. Und so gut wie nie erkühnt sich ein Leser oder Kritiker, seine eigenen Wertvorstellungen in die ästhetische Beurteilung des Werks einfliessen zu lassen. Die Kriterien, die stattdessen ins Spiel kommen, sind in aller Regel Glaubwürdigkeit, Komplexität, Tiefe und – ganz besonders – Innovationskraft.

Mich umtreibt die Frage nach dem Anything goes nicht erst, seitdem ich über die Mafia schreibe, letztlich geht es in jedem Text, der von menschlichen Beziehungen handelt, auch um Moral. Und deshalb haben mich die Bücher mit dem mafiosem Todeskitsch in Endlosschleife immer genervt, besonders, wenn kein einziger Name eines Politikers fällt. Über die Mafia zu schreiben, ohne über Politik zu schreiben, ist wie Regen, der nicht nass macht.

Und genau diesen trockenen Regen kriegen die Leser geliefert: faszinierende Mafiabosse, während die Mafiosi aus San Luca, Corleone, Mandatoriccio oder sonstigen Mafianestern immer noch aussehen wie der Hausmeister, der sich endlich mal daran erinnert hat, den Abfluss zu reparieren.

Die Mutter aller Mafiaromane ist „Der Pate“ – und zugleich auch die Mutter aller Mafiafilme. Denn wirklich greifen kann die Ikonografie erst als Film. In Corleones Bars hängen bis heute Fotos von den Dreharbeiten des „Paten“ – die im Übrigen von Cosa Nostra kontrolliert und ko-finanziert wurden.

Auf den Paten folgten Romanzo Criminale, Suburra und Gomorrha – erst als Buch, dann als Fernsehserie. Und der Clan der Kinder von Roberto Saviano ist geradezu maßgeschneidert als Identifikationsvorbild für die junge Zielgruppe: blutrünstige, kleine Bosse, die scheinbar weder Tod noch Teufel fürchten. Italienische Antimafia-Staatsanwälte wie Nicola Gratteri kritisieren diese Art von Mafiaverklärung seit langem – weil der in Romanen und Fernsehserien verbreitete Mafiakitsch häufig besonders Jugendlichen als Rollenvorbild diene. Im Jahr 2010 wurde in Kalabrien eine Bande von Minderjährigen verhaftet, denen Raubüberfälle mit schwerer Körperverletzung vorgeworfen wurden und deren Anführer sich „Il Freddo“ nannte, bei ihrer Festnahme fanden sich in ihren Wohnungen die Bücher und DVDs der Staffeln von „Romanzo Criminale“. Und in Neapel terrorisieren Baby-Gangs ganze Stadtviertel, beflügelt vom Gomorrah-Hype.

Wenn der Interpret eines erzählerischen Werks – sei es eine Kurzgeschichte, ein Roman, ein Drama oder ein Film – sich einmal, und sei es nur als Experiment, auf dessen moralische Landkarte konzentrieren und dabei bewusst psychologische wie auch historische, biografische oder soziologische Faktoren ausblenden würde, dann könnte er erstaunliche Dinge entdecken. Zum Beispiel, wie ein Schriftsteller durch die Mittel der Rhetorik und die Art, wie er Details organisiert, den Leser dazu bringen kann, sich in moralische Entscheide einzufühlen, die seinen eigenen Wertvorstellungen diametral entgegenstehen, oder eine moralisch fragwürdige Lesart zu tolerieren.

Jetzt könnte man sagen: Ist eben Kunst! Und Kunst darf alles, es gab schließlich auch massenhaft Cowboy-Filme, aber deshalb laufen doch nicht alle Amerikaner mit entsichertem Gewehr durch die Gegend.

Ähem. Blödes Beispiel.

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