Venedig – Stadt der Leser

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Hier der Wortlaut des Appells zur Rettung der letzten Buchhandlungen in Venedig, der von 139 venezianischen Autoren und Illustratoren verfasst und heute morgen in der Biblioteca Marciana vorgestellt wurde.

Venedig, Stadt der Leser 

In diesem Jahr läuft Venedig Gefahr, zur europäischen Hauptstadt des Analphabetismus ernannt werden, in der Stadt schließt eine Buchhandlung nach der anderen. Die Bilanz der letzten Jahre ist dramatisch.

Bereits geschlossen sind: Die Buchhandlungen Fantoni in San Luca, Fontego in Rialto, Marco Polo in San Lio (die Zukunft der von Giovanni Grisostomo ist ebenfalls ungewiss), Mondadori in San Marco, Old Books im Ghetto, Patagonia in Dorsoduro, Rossa in San Pantalon, Sansovino im Bacino Orseolo, Solaris in Anconeta, Tarantola in San Luca. Vor der baldigen Schließung stehen die Buchhandlungen Goldoni unweit von Rialto, Capitello in Cannaregio, Marco Polo in San Giovanni Grisostomo. Auch der Buchhandlung Laboratorio Blu im Ghetto droht die Schließung. Dies alles geschieht im Herzen der Stadt, die das moderne Verlagswesen erfunden hat.

       Uns ist sehr wohl bewußt, dass die Krise des Buchhandels allgegenwärtig ist. Aber hier im Herzen von Venedig verschwinden nicht nur die Buchhandlungen. Hier löst sich das ganze tägliche Leben auf. Es verschwinden Handwerksläden und die Geschäfte für den täglichen Bedarf. Venedig verwandelt sich in ein Einkaufszentrum für Touristen auf der Durchreise. Bald wird die Existenz der Venezianer nicht mehr vorgesehen sein, sie haben kein Wohnrecht mehr: Für den touristischen Fundamentalismus sind Einwohner nichts anderes als ein lästiges Hindernis.

Viele tatkräftige Menschen plagen sich mit der Bürde der öffentlichen Verwaltung dieser Stadt – aber bürokratische Hindernisse, Gesetzesverzögerungen und Kompetenzwirrwarr lassen auch die tapfersten Einsätze scheitern.

Hier sind unsere Forderungen:

* Wir appellieren an alle Personen, öffentlichen und private Einrichtungen, Vereine, Stiftungen, Gesellschaften, Verbände, große Marken und Einzelpersonen, die im Herzen von Venedig ihre Interessen pflegen und aus dem enormen symbolischen Kulturgut, das Venedig in der Welt darstellt, einen ökonomischen Gewinn und einen Imagezuwachs erwirtschaften, zumindest einen Teil dessen, was Venedig ihnen gibt, der Stadt auch wieder zurückzugeben.

* Wir appellieren an die italienischen Parlamentarier, insbesondere an die leidenschaftlichen Leser unter ihnen, das große Engagement von Verbänden verschiedenster Art (etwa Presìdi del libro oder Forum del Libro) durch politische Handlungen umzusetzen – eine Arbeit, die bereits in eine Diskussion um Gesetzesvorschläge mündete, und die unter anderem die Anerkennung sogenannter „Qualitätsbuchhandlungen“ zur Unterstützung von unabhängigen Buchhandlungen gefordert hat.

* Von der Region Veneto fordern wir, sobald wie möglich Gesetze zu Schutz von Buchhandlungen zu erlassen – gemäß der Befugnisse, die vom Artikel 117 der italienischen Verfassung garantiert werden.

* Die Stadt Venedig fordern wir auf, die Buchhandlungen in die  Handelskategorien einzugliedern, die in Geschäften im öffentlichen Besitz untergebracht werden. Den Buchhandlungen von den städtischen Gebühren wie für die Müllabfuhr zu befreien, ihnen die Nutzung öffentlicher Plätze und das Anbringen von Veranstaltungsplakaten umsonst zu erlauben.

* Die diversen politischen Verantwortlichen in ihrer Gesamtheit fordern wir auf, eine Spekulationspolitik zu verhindern, die vor allem in den historischen Städten dafür verantwortlich ist, dass kleine Gewerbetreibende wie Buchhandlungen zu allererst vertrieben werden.

* Die Stadt Venedig und das Denkmalschutzamt fordern wir auf, den venezianischen Buchhandlungen zentrale Plätze im Herzen der Stadt für Verkaufsstände für modernes Antiquariat und Kleinverlage zur Verfügung zu stellen (ähnlich wie in Turin mit den „Portici di Carta“).

* Die großen Immobilienbesitzer in Venedig (darunter unter anderem die Kurie, die Stadt Venedig und der italienische Sozialverband Ire) fordern wir auf, den Buchhandlungen in Schwierigkeiten Geschäftsräume zu ermäßigten Mietpreisen zur Verfügung zu stellen.

* Die privaten Stiftungen (darunter Guggenheim, Pinault, Prada) fordern wir auf, Formen von Mäzenatentum sowie eine kulturelle Zusammenarbeit mit dem venezianischen Buchhandel zu entwickeln.

* Die Biennale von Venedig fordern wir auf, das ihr zur Verfügung stehende künstlerische Potential zur Unterstützung des venezianischen Buchhandels zu nutzen (etwa durch Kunstprojekte, Entwicklung von Kunstbüchern, Architektur- und Designprojekte während der internationalen Kunst- und Architekturbiennalen, unter anderem dadurch, dass die venezianischen Buchhandlungen den Pavillons zugeordnet werden und Teil der Veranstaltungspläne werden).

* Die Stiftung Venezia fordern wir auf, ihre Schulprogramme zu verstärken, damit das Kulturgut „Buch“ vor allem jüngeren Schülern nahegebracht wird.

* Die Buchhändlerschule von Umberto und Elisabetta Mauri, die in Venedig alljährlich ein Seminar veranstaltet, fordern wir auf, mit venezianischen Stiftungen und Verbänden zusammenzuarbeiten (Fondazione Querini Stampaglia, Fondazione Giorgio Cini, Stadt Venedig, die venezianischen Universitäten Foscari und Iuav) – auf dass eine Art Kongress-Festival-Messe des Buches entstehen möge, an dem sich Kleinverleger, Verleger von Bildbänden und Kinderbüchern, modernes Antiquariat, Antiquariat, Bibliophile und überhaupt all diejenigen beteiligen mögen, die im gedruckten Buch ihren Schwerpunkt haben.

* Die Leser und Leserinnen fordern wir auf, sich nicht einfach bequem Bücher online zu bestellen, wenn es nicht notwendig ist.

 Venedigs Buchhandlungen stellen einen wesentlichen Teil der Stadt dar. Wenn auch dieses Stück von Venedig verschwindet, haben wir Venedigs Grab ein weiteres Stück ausgehoben. Wir halten die Schaufel in der Hand – wir und niemand anderes. Wir entscheiden darüber, was beerdigt und was ans Licht gebracht werden soll. Holen wir die Bücher aus diesem Grab wieder hervor. Gehen wir in die Buchhandlungen – und drücken wir der Schönheit der Stadt, in der wir leben, unsere Zuneigung aus.  

„Wenn ein Buch an jemanden verkauft wird, dann werden nicht nur dreihundertfünfzig Gramm Papier, Druckerschwärze und Leim verkauft, sondern ein ganzes Leben. In einem Buch steckt alles: Liebe, Freundschaft, Schiffe in einem nächtlichen Meer, der Himmel und die Erde.“ (aus: Christopher Morley, „Parnass und Pegasus“). 

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