Sippenhaft

Kürzlich beklagte sich der Sohn eines berüchtigten sizilianischen Mafiabosses darüber, in Sippenhaft genommen worden zu sein. Vincenzo Santapaola ist der Sohn von Benedetto, „Nitto“, Santapaola – der unter anderem wegen der Ermordung des Staatsanwaltes Paolo Borsellino verurteilt wurde. Der Sohn sitzt wie sein Vater in so genannter Hochsicherheitshaft: Einer Haft, die verhindern soll, dass Mafiosi in Kontakt mit der Außenwelt treten können – eine Haft, die inzwischen so pflaumenweich beschaffen ist, dass es dem Sohn des Mafiosos gelang, aus dieser Hochsicherheitshaft heraus einen seitenlangen Brief an die sizilianische Tageszeitung „La Sicilia“ zu schicken. Die ihn umgehend und kommentarlos veröffentlichte, unter dem Titel „Brief aus dem Gefängnis“ – was nicht nur Mitleid erregend klingt, sondern den Absender auch in gewisser Weise adelt, denkt man in Italien bei „Briefen aus dem Gefängnis“ doch zuerst an die des Philosophen Antonio Gramsci, der damit in faschistischer Haft das bedeutendste Werk der marxistischen Philosophie schuf.

„Ich befinde mich in Hochsicherheitshaft und werde seit elf Jahren von Gefängnis zu Gefängnis geschickt – in Erwartung von Prozessen, weil ich einen Nachnamen trage, der schwer auf mir lastet, ein verhasster und verleumdeter Nachname. Die Massenmedien bezeichnen mich als Mafioso, als Nachfolger meines Vaters“, schreibt Vincenzo Santapaola.

Nun lebe ich zu lange in Italien, um nicht misstrauisch zu werden, wenn sich Mafiosi darüber beklagen, in Sippenhaft genommen worden zu sein. Auch die Ehefrau des Bosses Totò Riina bezichtigte die italienische Öffentlichkeit, ihre Kinder in Sippenhaft zu nehmen: „Sie werden beschuldigt, als Kinder von Vater Riina und Mutter Bagarella geboren worden zu sein, eine Erbsünde, die durch nichts getilgt werden kann. Warum kann man meine Kinder nicht wie Jugendliche betrachten, die so normal sind wie andere auch?“ schrieb einst Ninetta Bagarella an die Tageszeitung Repubblica. Kurz danach wurde ihr ältester Sohn wegen Mafiazugehörigkeit und vierfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, sein jüngerer Bruder wurde der Mafiazugehörigkeit und Erpressung für schuldig befunden.

Es ist kurios, zu sehen, wie geschickt es den Mafiosi gelingt, sich als Opfer zu stilisieren – etwa so: Nun gut, wir nehmen aus organisationstechnischen Gründen vorzugsweise Blutsverwandte in unsere Clans auf, aber diese Eigenart darf uns doch nicht zum Vorwurf gemacht werden!

Die Mafia nutzt immer die Schwächen der jeweiligen Gesellschaft aus und pervertiert ihre Werte. Im katholischen Italien ist das die Familie. Jeder Italiener hat Verständnis dafür, dass die Familie geschützt werden muss. Und die Deutschen fürchten nichts mehr, als des Rassismus bezichtigt zu werden. Daher wundert es auch nicht, dass sofort genau das zum Vorwurf gemacht wird, sobald sie vermuten, dass sich die Mafia in Deutschland nicht lediglich auf sechs tote Kalabresen beschränkt: Oder wollen Sie jetzt etwa alle in Sippenhaft nehmen?

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