Neapel und die Camorra


Wo soll er anfangen? Bei den 100 Camorra- Clans, die Neapel beherrschen?

Oder beim Benzinmangel für die gepanzerten Limousinen der Staatsanwälte?

Bei der Tonne Kokain und den sechs Tonnen Haschisch, die im Jahr 2006 in Neapel beschlagnahmt wurden? Und die dennoch nicht mehr als zehn Prozent der insgesamt in Italien gehandelten Drogen ausmachen?

Oder bei der Moral der Gesetzlosigkeit?

Wenn Politiker die Existenz der Camorra als eine Art sozialen Stoßdämpfer rechtfertigen, der die öffentliche Ordnung aufrechterhalte, weil er ganzen Bevölkerungsschichten das Überleben garantiere? Oder bei der Seilschaft zwischen Camorra, Unternehmern und Politikern, aus der alle Beteiligten höchsten Nutzen erzielen?

In der Wirtschaftstheorie nennt man das eine Win-Win-Situation: Politiker unterstützen die Camorra, die als Dank Wählerstimmen garantiert. Und sie verbünden sich mit Unternehmern, um, im Austausch für öffentliche Aufträge, in den Genuss von Schmiergeldzahlungen zu kommen.

Die Camorra erhält von Unternehmern die sogenannten Schutzgelder für öffentliche Aufträge – ohne die kann nicht gearbeitet werden – und außerdem Aufträge für „Subunternehmer“:

Was den Clans ermöglicht, Arbeitsplätze zu schaffen und sich damit soziale Legitimation zu erwerben.

Und die Politiker garantieren der Camorra Schutz vor Strafverfolgungen durch Polizei und Justiz.

Der Nutzen für einen Unternehmer besteht darin, dass er unter Ausschaltung der Konkurrenz an öffentliche Aufträge kommt, dass die Sicherheit von Baustellen garantiert ist, keinerlei gewerkschaftlicher Druck ausgeübt werden kann; und dass die Bedingungen für Steuerhinterziehung, schwarze Kassen und Investitionen in Steuerparadiese stimmen.

Staatsanwalt Roberti blickt dem Rauch nach, der von seinem Zigarillo aufsteigt. „Diese Seilschaft bestimmt jeden Atemzug hier in Neapel“, sagt er.

„Die Camorra ist kein Fremdkörper, sondern gehört zu Neapel. Und das seit 200 Jahren.“ Dank ihrer schier unerschöpflichen Geldquellen hat es die Camorra schon lange nicht mehr nötig, Gewalt anzuwenden.

Sie operiert „legal“, indem sie sich in verschiedene Wirtschaftszweige einkauft – um Geld zu waschen. Jeder Espresso, der in einer Bar getrunken wird, steht unter Kontrolle der Camorra.

Sie dominiert die Märkte des täglichen Verbrauchs, Fleisch, Mineralwasser, Kaffee, Milchprodukte, Viehfutter, all das ohne Hygienekontrollen.

Ob es dem Staat eines Tages gelingen könnte, die Camorra zu besiegen? „Ja“, sagt Chefermittler Roberti. „Wenn der Staat das will.“ Wer auf der Terrasse des Segelclubs Circolo Italia sitzt, dem bricht Neapel das Herz. Mit Sommerdunst, der glitzernd vom Golf aufsteigt, mit dem Schatten des Castel dell`Ovo, der weich geschwungenen Silhouette des Vesuvs und dem Panorama von Sorrent im Gegenlicht.

Hier, zu Füßen des Stadtteils Santa Lucia, hört man nichts anderes als sanften Wellenschlag, das Ächzen der Segelmasten und Gläserklang, wenn rot livrierte Kellner Aperitifs servieren. Die Kellner sind Söhne von Circolo-Italia- Kellnern, wie die Skipper Söhne von Circolo-Italia- Skippern sind; nicht umsonst ist der Segelclub der älteste und exklusivste Neapels. In ihn wird man hineingeboren.

Auf der Terrasse sitzen Männer, die aussehen wie alte Agnellis, mit sonnengegerbter Haut, Siegelringen und der Überzeugung, dass sich der Wind immer zu ihren Gunsten dreht. Roberto Garolla di Bard war zehn Jahre lang Präsident des Clubs, ein schöner alter Mann mit türkisblauen Augen, der im Schimmer eines vanillefarbenen Leinenjacketts auf der Terrasse sitzt und jahrhundertealte Anekdoten versprüht.

Etwa, dass sich die „Gazette de Nice“ während einer Segelregatta fragte, ob die Mitglieder des Circolo Prinzen oder nicht vielmehr Seemänner seien, weil sie an keinem Gesellschaftsempfang teilnahmen. Was die Clubmitglieder dazu inspiriert habe, am nächsten Tag im Frack zu segeln. Dass Damen als Gäste erwünscht seien, nicht jedoch als Mitglieder, weil der Circolo sonst zu einem Canasta- Club verkomme. Dass der Fiat- Chef Agnelli dem Club die Zwölf- Meter- Jacht „Tomahawk“ geschenkt habe.

Während der Ehrenpräsident erzählt, streichelt der Sommerwind sanft über die Gesichter. Und obwohl man sich hier für seine Gedanken schämt, Gedanken über den Müll und das verseuchte Leben und das, was man „il sistema“ nennt, ist es plötzlich da, das schreckliche Wort: Camorra. Mit einem Mal gefriert alles, ganz so, als sei die Rede von einer Obszönität. Die alten Agnellis blicken stumm in ihre Aperitifgläser.

Die Segelmasten ächzen nicht mehr.

Der Wellenschlag erstarrt. Und der Mann mit den türkisblauen Augen sagt:

„Ach, wissen Sie, das ist ein Problem der Peripherie, die Neapel überrennt.“ Dann stehen plötzlich zwei Männer mit Sonnenbrillen im Büro von „Bella Napoli“, der Agentur von Carmine Sarno.

Einer der beiden ist weißhaarig, trägt Nadelstreifenanzug und ein schmales D`Artagnan-Bärtchen. Er sieht aus wie Richard Gere. Der andere ähnelt Al Pacino und ist ganz in Schwarz gekleidet.

„Finanzpolizei“, sagt Richard Gere, greift in die Innentasche seines Jackets und zückt einen Ausweis.

„Es geht um die Einkünfte aus Alessios Konzerten“, sagt Al Pacino, „wir wollen wissen, wie viele Eintrittskarten verkauft wurden, solche Dinge.“ Carmine schweigt.

„Können Sie uns nicht weiterhelfen?“, fragt Richard Gere.

„Nein“, sagt Sarno, „um so etwas kümmere ich mich nicht.“ Dann geht er zu einem Regal und zieht eine Mappe hervor. Umständlich klappt er sie auf. Urkunden befinden sich darin, vergilbte Lizenzen, Sarno schaut sie an, als sähe er sie in diesem Augenblick zum ersten Mal.

„Möglicherweise kann uns Ihr Steuerberater weiterhelfen, wie heißt er?“, fragt Al Pacino.

„Mein was?“ „Ihr Steuerberater. Sie werden doch einen Steuerberater haben“, sagt Richard Gere.

„Ich weiß nicht, wie mein Steuerberater heißt. Meine Frau kümmert sich um solche Sachen.“ Und dann ruft Carmine über die Straße dem Schreiner gegenüber zu: „Weißt du, wie mein Steuerberater heißt?“ Der Schreiner brüllt zurück: „Ich habekeine Ahnung.“ „Vielleicht können wir ja mit Ihrer Frau sprechen“, schlägt Al Pacino vor. „Vielleicht kann sie später bei uns vorbeikommen“, sagt Richard Gere.

Carmine Sarno antwortet: „Nein, das ist nicht möglich, meine Frau ist gerade in Lourdes auf Pilgerreise.“ Sie sieht aus wie eine jener adeligen Damen, deren Leben hauptsächlich im Arrangieren der Fotos ihrer Lieben besteht, eine breitschultrige Frau mit Perlenkette und ausdrucksstarken Halstüchern.

Contessa Maria Visocchi wohnt im obersten Stock eines Palastes mit Blick auf den Golf von Neapel, der sich am Horizont wie flüssiges Silber dehnt, hinter pompejiroten Fin-de- Siècle-Villen und kardinalroten Bougainvilleen, die auf der Terrasse wachsen.

Man erwartet von der Contessa, dass sie starken Espresso servieren lässt und über philippinische Hausboys klagt oder über Probleme bei der Restaurierung von Renaissanceporträts. Nicht aber über vergiftete Milch: Einst betrieben die Visocchis auf dem familieneigenen Gut in Marcianise eine Rinderzucht – unweit von Casal di Principe, jenem Ort im Hinterland, der wegen des Clans der Casalesi zu Berühmtheit gelangte.

Vor vier Jahren mussten alle 3000 Kühe notgeschlachtet werden, weil die Dioxinbelastung in der Milch zu hoch war. Die Kadaver wurden nach Mailand gebracht, wo sie in einer Spezialanlage verbrannt wurden.

„Es war Dioxin aus der Luft“, sagt die Contessa, „nicht Dioxin aus dem Futter.“ Wäre es das gewesen, sie hätte sich getröstet: ein ungewöhnlich verseuchtes Stück Erde, auf dem ihre Kühe standen, ein Stück Erde, das man hätte ausheben können – entsorgen, vielleicht. Aber Luft? Wie soll man die Luft entsorgen?

Bijou, Schmuckstück nennt sie sich, weil sie so hübsch war als junge Frau.

Blonde Haare hat sie immer noch und ein verwelktes Mädchengesicht.

Bijou wohnt mit ihrer Mutter in einem „basso“ in der Altstadt: zwei ebenerdige Zimmer, ein Schlafzimmer und eine Küche mit hellgrauem Fliesenboden, Einbauschränken und einem Bild der heiligen Rita auf dem Hausaltar.

Unter der Küchenlampe hängt noch Zigarettenrauch:

Von drei Uhr nachmittags bis acht Uhr abends verwandelt sich diese Küche in eine Spielhölle für die Frauen des Viertels. Bijou und ihre Mutter verdienen bei jeder Runde fünf bis zehn Euro pro Spielerin. Die Frauen sind nun zur nächsten Bingohalle gezogen, wo sie bis zum Morgengrauen weiterzocken werden.

Bijou steht in einem zerschlissenen Unterrock in ihrer Küche und fegt die Zigarettenkippen zusammen, mit denen der Fliesenboden übersät ist. Für sie und ihre Mutter ist die Spielhölle die einzige Einkommensquelle, ihr Bruder könne nicht für sie aufkommen, sagt sie entschuldigend. Er habe eine Taschenfälscherwerkstatt betrieben – bis „böse Menschen“ die Finanzpolizei schickten.

Wenig später steht Sergio in der Küche, auf einen Arm hat er sich ein Porträt von Al Pacino tätowieren lassen, das man allerdings unter der dichten Behaarung nur erahnen kann. Bijous Bruder arbeitet jetzt bei einem Lederwarenfabrikanten.

Für 200 Euro pro Woche stellt er „personalisierte“ Taschen her, die aus-sehen wie von Gucci, aber „Mario“ heißen.

Sie werden von afrikanischen Straßenhändlern verkauft: Die sind die Einzigen, die nie verhaftet werden. Bei ihnen drücken die Polizisten ein Auge zu, wohl, um nicht als Rassisten zu gelten.

Produziert wird nach Auftragslage.

Meist ist sie schlecht. „Unser Ruin waren die Chinesen“, sagt Sergio. Sie kopieren noch schneller. Und billiger.

Ein schwacher Charakter ginge natürlich zur Camorra, sagt der Bruder, und Bijou nickt. Und dann zieht auch er weiter zur nächsten fensterlosen Zockerhöhle, wo Carambole, eine Art Billard ohne Queue, gespielt wird, und wo an der Wand ein Foto des ermordeten Bosses Beppe Giuliano hängt, neben dem von Padre Pio, dem Lieblingsheiligen der italienischen Mafiosi: Er darf in keinem ihrer Vorgärten, in keinem ihrer Lkw- Führerhäuser fehlen.

Vernunftbegabte Katholiken halten Pio für einen Scharlatan, dessen Wundmale weniger auf Heiligkeit als auf den gezielten Einsatz von Karbolsäure zurückzuführen waren.

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