Neapel und die Camorra


Jeden Sonntag organisiert der Advokat eine öffentliche Debatte, eine Versammlung des neapolitanischen Volkes, das Themen diskutiert, an deren Verbreitung der Camorra keineswegs gelegen ist – etwa die Krebserkrankungen, ausgelöst durch vom Giftmüll verunrei-nigtes Grundwasser.

„Wir fühlten uns bemüßigt, einzugreifen“, sagt Marotta und zieht die Augenbrauen ganz leicht nach oben.
„Kultur ist das Rückgrat des moralischen Bewusstseins!“ Einmal im Monat geht im Institut eine Bombendrohung der Camorra ein.

Auf halber Höhe der Freitreppe hängt eine Gedenktafel. Der Advokat blickt auf die Namen der ermordeten Revolutionshelden und flüstert: „Die Blüte Neapels! Abgeschlachtet!“ Es ist, als sei dies erst gestern geschehen.

Denn wie der legendär grobschlächtige Ferdinand IV. stets die Nähe zu den „lazzaroni“ suchte, dem Lumpenpack, das er mit Geschenken bedachte, um seine Macht zu sichern – so kungeln in Neapel Politiker bis heute mit der Camorra.

Der aus Kampanien stammende Justizminister Clemente Mastella musste im Januar 2008 zurücktreten, nachdem die Staatsanwaltschaft wegen Amtsmissbrauchs gegen ihn ermittelte; seine Frau Sandra Lonardo, Präsidentin des Regionalrats Kampanien, sitzt wegen versuchter Erpressung unter Hausarrest. Und warf dem wartenden Volk Kusshände zu, als sie nach ihrem Verhör den Justizpalast verließ.

Von der Auslöschung der geistigen Elite habe sich Neapel nie wieder erholt, sagt der Advokat: Das Lumpenpack sei auch heute noch an der Macht. „Die Camorra ist das Bürgertum Neapels! Sie ist der Gesprächspartner der Politik. Der Staat hat hier kein Gewaltmonopol.“ Er zieht sich den Wollschal enger um seinen dünnen Leib.

Und fügt leise hinzu: „Neapels Übel sind die Übel Italiens! Europa muss sich bewegen! Es kann sich nicht leisten, Italien zu verlieren!“ Als wir aus dem Palazzo wieder auf die vermüllte Via Monte di Dio treten, dämmert es. Eine Ratte huscht an der Hauswand vorbei, und auf einem feuerroten, vierrädrigen Mini-Motorrad rast ein kleiner Junge über das Pflaster.

Von der anderen Straßenseite dröhnt Acid-House-Musik aus einem „basso“, einer jener ebenerdigen Wohnhöhlen, die sich in die Adelspaläste hineingefressen haben.

Im bläulichen Neonlicht einer Küchenlampe sieht man einen Jungen, der mit Kopfhörer über den Ohren an einem Mischpult steht. Und zwei resignierte Alte, die in der Acid- House-Musik wie in einer Windmaschine sitzen.

„Du willst das Video für Francesco Paolillo sehen?“ Carmine Sarno geht zu seinem Wagen, einem silbernen Mercedes S-Klasse. An einer Hausmauer hängt der Altar, den Carmine für den toten Jungen gestiftet hat: „Für jene kleine Blüte, die der Erde geraubt wurde, um in den Händen des Herrn zu erblühen.“ So verkündet es die Inschrift. Unterzeichnet von der Familie Sarno.Behände steigt Carmine die Treppen zur Wohnung der Familie Paolillo hinauf. Er klopft nicht an, sondern betritt die Wohnung so selbstverständlich wie ein Verwandter.

Die Mutter trägt den Namen ihres toten Sohnes in den Unterarm eintätowiert. Monatelang schlief sie in einem Zelt an der Stelle, wo Francesco starb, weil sie dagegen demonstrieren wollte, dass die Kinder in Bauruinen spielen müssen. Am Wochenende wird in Ponticelli ein Sportplatz eingeweiht. Er ist der Sieg dieser Mutter. Gegen den Defätismus, gegen die Resignation.

Regionalpräsident Bassolino und Bürgermeisterin Iervolino hätten ihr Kommen angekündigt, verkündet der Sohn Alessandro stolz, er ist ein großes, blondes, arbeitsloses Kind. Keiner der beiden Politiker hätte je einen Fuß nach Ponticelli gesetzt, es sei einzig das Verdienst seiner Mutter, dass sie sich nun für ihr Schicksal interessierten, sagt er, und seine Mutter legt stumm die DVD mit dem Film über ihr totes Kind ein.

Der Clip ist in Schwarz-Weiß gedreht, Carmine hat ihn schon tausendfach gesehen – und am Ende wieder Tränen in den Augen.

„Jeder hat seine Gefühle“, wird er später sagen, beim Mittagessen in jenem eleganten Restaurant, das sich wie eine Schimäre aus Ponticellis Ödnis erhebt.

„Für dich wie immer ohne Petersilie, Carmine“, sagt der Kellner.

Sarnos Blick wischt nachlässig über die Geschäftsleute, die ihn begrüßen.

Als ein Mann vom Nebentisch ruft: „Du bist der Größte!“, verzieht er keine Miene.

Er rückt nur den Rubinring an seiner rechten Hand zurecht – das Geschenk einer Person, die sich für eine erwiesene Gunst bedankt habe – und spricht über die Wohltätigkeitskonzerte, die er jedes Jahr veranstalte: eines für Kinder am Dreikönigsfest und eines zugunsten Körperbehinderter im September.

Warum er das mache? „Weil ich von Geburt an hinke“, sagt Carmine.

Er trägt die Augenbrauen gezupft, so, wie es sich gehört für neapolitanische Männer. Allerdings wachsen die Härchen schon wieder nach, weil seine Frau keine Zeit zum Zupfen hatte. Gino Correra ist Fotograf – oder besser: Regisseur.

Er inszeniert Neapels heilige Rituale – Hochzeiten, Kommunionfeiern und Taufen; er besorgt vierspännige Kutschen und Rosenblüten und lässt sie aus einem Hubschrauber über dem Haus der Braut regnen.

Gino Correra liebt es, von den Exzessen zu schwärmen, denen sich seine Kunden hingeben: Feuerwerk für 10 000 Euro; Hubschrauberflüge nach Capri, um sich während der Hochzeitsfeier zwischen Vorspeise und Spaghetti vor den Faraglioni-Felsen fotografieren zu lassen, 14 000 Euro kostet sein Einsatz dann. Oder wenn das Kommunionkind wie eine laszive Nymphe auf dem Rücken eines Pferdes am Strand von Ischia gefilmt wird – für ein Video, das den geladenen Gästen am Ende der Feier überreicht wird.

Wer auf sich hält, feiert seine Hochzeit im „Grand Hotel La Sonrisa“, unweit von Pompeji. Das Anwesen sieht aus wie eine Stein gewordene Hochzeitstorte, mit Säulenalleen aus weißem Stuck, Wasserfällen, Pfingstrosenbüschen, aus denen der Hochzeitsmarsch dröhnt, wenn das Hochzeitspaar feierlich einzieht.

Im Sommer fotografiert Correra manchmal zwei oder drei Hochzeiten pro Tag. Sein Vorbild ist Oreste Pipolo, der berühmteste Hochzeitsfotograf Neapels; der habe seinen Ruhm vor allem der Tatsache zu verdanken, der Fotograf der Giulianos gewesen zu sein.

Der legendäre Clan beherrschte Neapel bis in die 1990er Jahre. Die Camorristi liebten es, sich vor Pipolos Kamera zu inszenieren: Das Foto des Fußballers Diego Maradona, in der muschelförmigen Badewanne der Giulianos liegend und Champagner trinkend, wurde zur Camorra-Ikone.

„Entscheidend war, dass ich zu Beginn meiner Karriere ein paar wichtige Hochzeiten gemacht habe“, sagt Correra.

Danach lief alles von allein.

Sein Fotostudio liegt im Spanischen Viertel, am Ende der Via dei Tribunali, zwischen mit Totenköpfen geschmückten Barockkirchen, marmornen Renaissance- Füllhörnern und Hausaltären für Maradona. Nur wagemutige Touristen durchqueren das Viertel, Kreditkarten in den Unterhosen versteckt. Für das neapolitanische Bürgertum, das in mit Nummerncodes gesicherten Straßenzügen auf dem Vomero- Hügel wohnt oder unter den Zypressen von Posillipo, ist die Altstadt ein dunkler Kontinent, den es nie betreten wird.

Und dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, wird Gino Correra nicht müde, seine Straße zu preisen: „Hier wird keine Tasche, kein Auto, keine Vespa geklaut.

Hier wird alles kontrolliert! Kein Vergleich zu Forcella! Oder Sanità!“, und es klingt, als befänden sich die Camorra- Hochburgen in einer anderen Galaxie. Und nicht eine Straße weiter.

In Correras Fotokasten ist das Bild einer Braut ausgestellt, die ganz in Schwarz vor den Altar getreten ist, eine üppige Neapolitanerin mit schwarzer Spitzenhaube, die einen ebenso üppigen Mann mit messerrückenschmalem Bart umarmt. Ja, sagt Correra, das sei eine besonders schöne Hochzeit gewesen, mit einer Serenade und zwei Feuerwerken, die Braut habe darauf bestanden, in Schwarz vor den Altar zu treten, weil sie mit dem Bräutigam bereits zwei Kinder hatte.

Und dann hat Gino Correra keine Zeit mehr zu plaudern, denn er muss die Taufe eines Kindes eben dieses Paares fotografieren, in Santa Catarina a Formiello, nur wenige Schritte von seinem Studio entfernt – in jener Kirche, in der sich die Camorra der Legende nach einst gegründet haben soll.

Correra ist der einzige Mann im Anzug, fast alle anderen tragen karierte Hemden, als befänden sie sich auf einem Wanderausflug und nicht bei einer Taufe, gerade murmelt die Gemeinde „durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld“.

Der Pfarrer ermahnt alle, sich zum Beten zu erheben: „Nur wer Hämorrhoiden hat, darf sitzen bleiben!“, ruft er.

Und: „Habt ihr schon mal jemandem geholfen, sein Leben zu ändern? Ein vorbildhaftes Leben zu führen anstatt eines in Sünde?“ Und dabei klingt er wie ein Sozialarbeiter, der schwer erziehbare Jugendliche in einer Thea-ter- AG dazu bringen will, in Zukunft niemanden mehr in der U-Bahn zusammenzuschlagen.

Das Taufkind heißt Guglielmo und trägt über dem weißen Pulli eine schwere, silbrige Kette, an der ein mit Brillanten übersätes Kruzifix hängt: ein Geschenk seines Taufpaten, der auch sein Großvater ist. Und der seinerseits von Verwandten mit einem dicht mit Brillanten besetzten Armreif beschenkt wurde. „15 000 Euro“, sagt Correra.

„Und von wegen Silber!“ Als die Mutter am Ende der Taufe die Stufen der Kirche herabsteigt, wirft sie einen vernichtenden Blick zurück. Ihr gewaltiger Busen bebt vor Empörung, als sie erzählt, dass einige Journalisten nach ihrer Hochzeit von dem Priester wissen wollten, ob es sich bei dem Brautpaar, das in Schwarz vor den Traualtar trat, um Camorristi gehandelt habe.

Der Priester habe die Aussage verweigert.

Gerade so, als hätten sie etwas zu verbergen.

„Neapel ist ein Gefängnis mit offenen Türen“ steht an einer Mauer unweit des Justizpalastes. Wer zur Anti-Mafia- Staatsanwaltschaft will, muss über zerbrochene Toilettenschüsseln, alte Fernsehgeräte und Waschmaschinen steigen, die am Straßenrand liegen, dann mit einem ratternden Aufzug fahren, um schließlich in einem kafkaesken Horror Vacui anzukommen: Die Büros sind mit Archivkisten zugestellt, mit zusammengeschnürten Aktenstapeln von Mordsachen und Mafia-Prozessen, mit Protokollbündeln.

Jede Seite trägt unzählige Stempel, Unterschriften, Gebührenmarken – materialisierter Ausdruck eines bürokratischen Wahnwitzes, der sich hier jedes Zentimeters bemächtigt hat. Man atmet auf, wenn man das Aktengebirge durchquert hat und im Büro von Oberstaatsanwalt Franco Roberti steht; er sitzt mit bläulichen Lippen im eisigen Wind der Klimaanlage und raucht ein Zigarillo.

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