Mythos Soweto

Soweto

Das ist Elend und Zorn und schwarzer Freiheitskampf. 13 Jahre nach Ende der Apartheid aber spielt Politik in der SOuth WEstern TOwnship, der Geburtsstätte des neuen Südafrika, kaum noch eine Rolle. Die Bewohner träumen davon, am Wirtschaftsaufschwung teilzuhaben – nach dem Vorbild jener Sowetans, denen der Aufstieg bereits gelungen ist.

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Das Geschäft läuft glänzend, sagt der Bestatter. Dann räuspert er sich und fügt hinzu: glücklicherweise. Oder unglücklicherweise. Wie man es nimmt.

Molefi Kupane ist Juniorchef von Sowetos größtem Beerdigungsunternehmen „Kupane Funerals“, ein Mann, der beim Sprechen die Augenbrauen hochzieht, die Lider halb geschlossen hält und einen kleinen, spitzen Mund macht, ganz so, als sei ihm die berufsbedingte Pietät in die Mundwinkel gekrochen. In der rechten Hand hält er einen silbernen Blackberry, auf den er wie auf einen Kompass blickt und sich den Weg durch Papierblumenkreuze, Särge, Urnen und Schlangen von Hinterbliebenen bahnt. Der Publikumsandrang ist hier so groß, dass Schalter eingerichtet werden mussten, wie bei der Post, um die Trauernden schneller abzufertigen. Vorbei an der Tür zur Leichenhalle, an der das Schild Bitte nicht ohne Handschuhe eintreten! hängt, führt der Juniorchef zu seinem Büro in den ersten Stock; er schreitet durch das Sarglager wie ein König durch sein Reich, preist Teakholzsärge mit Messingbeschlägen: Darin wachen Sie nie wieder auf!, rühmt Stahlsärge: Der Rolls-Royce unter den Särgen! Damit kommen Sie direkt in den Himmel!, und stellt am Ende vor Glück seufzend fest: Es ist ein wunderbarer Beruf! Eine solche Befriedigung!

Tatsächlich gibt es keine eine andere Branche in Soweto, die in ähnlicher Blüte steht wie der Beerdigungsinstitute. Ihre Namen prangen auf Mauern, hängen an Laternenpfählen und sind auf die im Straßenstaub liegenden Steinbrocken getüncht. Sie verheißen Trost und Unterstützung und eine einfühlsame Begleitung durch die Zeit des Abschieds – und preisgünstige Beerdigungspakete, in denen von der Leichenfeier über die Videodokumentation bis hin zum Grabsteinlegung alles inklusive ist: Auch Sie können sich eine Beerdigung leisten!

Noch heute stirbt man in Soweto schneller als anderswo in Südafrika, auch wenn es keine Apartheid mehr gibt, keinen Krieg mehr von Schwarzen gegen Schwarze, keine Inkatha-Milizen und keine ANC-Banden, die mordend durch Sowetos Straßen ziehen. Der Virus mordet lautlos. Und in Massen.

Wissen Sie, sagt Molefi Kupane, wir beerdigen hier schon seit den 1980er Jahren, als die Leute noch aus den Zügen geworfen worden. Doch das war nichts im Verhältnis zu dem, was heute hier passiert. Wir arbeiten rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche, und wir schaffen es kaum.

Über seinem Schreibtisch hängt ein Foto von Martin Luther King, unter dem steht: Freedom has always been an expensive thing. Molefi Kupane versteht nicht, warum man in Soweto im Jahr 2007 immer noch an Aids sterben muss: Schließlich handelt es sich um eine behandelbare Krankheit! Und weil der Bestatter im Grunde seines Herzens ein optimistischer Mensch ist, betont er, dass es nicht nur Aids in Soweto gibt. Es gibt auch Fortschritt, sagt Kupane und schaut ernst und feierlich aus dem Fenster  und entdeckt auf der Straße ein Schulmädchen in Uniform, das eine Pizzaschachtel in der Hand trägt: Sehen Sie? Der Fortschritt besteht darin, jemanden abends mit einer Pizza-Schachtel in der Hand durch Soweto laufen zu sehen und das nicht mehr eigenartig zu finden! Wir haben jetzt Straßen, wir haben Elektrizität, wir haben Einkaufspassagen. Das ist die Verbesserung!

Soweto ist Mythos, Legende und offizielle Heimat von 2,5 Millionen Menschen. Inoffiziell leben hier 4 Millionen – in disneybunten Sozialwohnungen und Wellblechhütten, in matchbox-houses, flachgedrückten Backsteinhäusern mit Metalldächern und in Mietskasernen, die aussehen, als seien sie aus dem Ruhrgebiet der 1960er Jahre nach Soweto exportiert worden. Es war das erklärte Ziel der Apartheid-Regierung, Soweto so unwirtlich wie möglich zu gestalten – wie ein gewaltiges Gefangenenlager ohne Zaun, mit stadionhohen Flutlichtstrahlern anstelle von Straßenlaternen, ohne Geschäfte, Restaurants, Parks oder Apotheken, anstelle eines Namens ein papieren anmutendes Akronym aus South Western Township. Und doch wurde die Schlafstadt schwarzer Arbeiter, die nie zur Heimat werden sollte, zum Schoß des unabhängigen schwarzen Südafrikas.

Auch heute noch, 13 Jahre nach der Abschaffung der Apartheid, ist Soweto das Synonym für Südafrikas schwarze Seele. Es ist eine Seele, auf die ockerfarbener Staub von den Minenabraumhalden geweht wird, eine Seele, die auf der Straße lebt, neben Telefonzellen-Containern, eingeschweißten Polstergarnituren und Friseusen, die falsche Locken ankleben. Und neben den Soweto-Taxis, die chronisch überfüllt sind, weil der Zug nach Johannesburg bis heute nicht den Geruch nach Tod losgeworden ist.

Soweto, das sind 36 verschiedene Stadtteile, sie reichen von Orlando West, wo einst die ANC-Prominenz lebte, über die Wellblechslums von Klipville, von den flamingofarbenen Villen von Diepkloof Extension bis hin zu no-go-areas wie Whitecity – wohin selbst der Bestatter Kupane Jr. keinen Fuß setzen würde: Weil dich dort eine Kugel schneller trifft, als du sehen kannst, aus welcher Richtung sie kommt. Aber. Gibt es in Soweto nicht auch Parks, in denen sich Brautpaare im Abendlicht dem Fotografen stellen und in denen samstags gegrillt wird? Gibt es nicht das neue Jabulani-Einkaufszentrum, das mit einem Feuerwerk feierlich eröffnet wurde, ganz so, als sei Soweto damit etwas näher an Johannesburg gerückt? Gibt es nicht sogar einige schicke Cafés und Bars, in denen die Touristen von Jimmy’s-Face-to-Face-Tour in Soweto Pause machen? Es gibt ihn, den Fortschritt. Man muss ihn nur sehen. Jedenfalls ist Molefi Kupane Junior dieser Meinung.

Viele Sowetans wollen selbst dann nicht von dem Ort ihrer Geburt lassen, wenn sie längst in die luxuriösen weißen Vororte Johannesburgs gezogen sind: nach Sandton und Rosebanks, wo die Straßen für den Durchfahrtsverkehr gesperrt sind, und man hinter Jacarandabäumen und Bougainvilleen-Kaskaden lebt – in Villen, die sich hinter fünf Meter hohen Mauern verstecken, aufgerüstet mit elektrischen Drähten und Eisenstacheln. Und wo man den Panik-Knopf nicht aus der Hand legt, die direkte Verbindung zur Armed response-Wachgesellschaft.

Am Wochenende zieht es die einstigen Sowetans zurück. Etwa, um Hühner zu schlachten, als Opfer für die Ahnen – ein Ritual, das sich in einem zementierten Innenhof in Soweto leichter bewältigen lässt, als auf einer gefliesten Terrasse in Rosebanks.

Eine Mischung aus Heimweh und Überlegenheitsgefühl treibt die einstigen Bewohner zurück, ganz so, als sei Soweto eine Mutter, die einen immer noch wie ein Kind behandelt, obwohl man schon lange erwachsen ist. Sie kehren zurück, um zu zeigen, dass sie es geschafft haben. Und lassen hier samstags das Auto waschen, sitzen mit alten Freunden vor dem Elternhaus, trinken Bier, paradieren abends parfümiert vor dem Club Rockville auf und ab – und nehmen an einer Beerdigung teil: Am Wochenende wird in Soweto wird im Akkord beerdigt, der Verkehr auf der Straße zum Avalon-Friedhof steht im Stau, und in der Gegenrichtung jagen die Stretch-Limousinen und silbernen Cadillacs von Kupane Funerals vorbei. Totenfeiern sind Sowetos Gesellschaftsereignis Nummer eins, hier wird eine Beerdigung nicht begangen, sondern gefeiert, auf den Straßen stehen Zelte für den Leichenschmaus und die After-Tears-Parties bereit. Wenn die Tränen getrocknet sind, wird getrunken und getanzt. Du bist nur ein Mensch durch andere Menschen, sagt ein Zulu-Sprichwort.

Kupane Jr. kontrolliert am Computer, wie viele Beerdigungen für dieses Wochenende in Soweto vorgesehen sind, es sind 272. Avalon, der älteste der vier Friedhöfe von Soweto, ist kurz davor, wegen Überbelegung geschlossen zu werden. Denn in Soweto wird man für immer begraben – kein Grab wird aufgelöst, und wöchentlich kommen durchschnittlich 300 bis 400 Gräber hinzu, die den Geschäftssinn beleben: Täglich entstehen in Soweto neue Beerdigungsunternehmen.

Natürlich glauben hier viele Leute, dass sie mit Beerdigungen das schnelle Geld machen können, sagt Molefi Kupane. Ein Irrtum! Zu einem Beerdigungsinstitut müsse man Vertrauen haben, und nur wenige seien in Soweto so anerkannt wie die Kupanes, die ganze Familien zu beerdigen pflegten. Der Konkurrenzkampf sei inzwischen so ausgeartet, dass manche Bestatter wegen des erhofften Werbeeffekts Prominenten sogar ein Gratis-Begräbnis anböten. Oft erstehe so ein unwürdiges Gezerre um die Leiche.

Vor wenigen Tagen etwa sei die Mutter der berühmten südafrikanischen Sängerin Yvonne Chaka-Chaka gestorben, um deren Beerdigung sich alle Beerdigungsunternehmer Sowetos gerissen hätten. Dann macht Molefi Kupane eine kleine Pause, spitzt wieder den Mund, um ein triumphierendes und damit pietätloses Lächeln zu unterdrücken, und sagt: Die Leiche haben wir, natürlich.

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Am nächsten Morgen fährt der weiße Cadillac von Kupane Funerals vor einem kleinen, verklinkerten Haus in Dobsonville vor, um den Sarg Yvonne Chaka-Chakas Mutter abzuholen. Wie in Soweto üblich, wurde die Tote in der Nacht vor der Beerdigung im offenen Sarg zu Hause aufgebahrt – damit die Angehörigen von ihr Abschied nehmen können. Meti Sophie Machaka ist im Alter von 71 Jahren entschlafen – passed away, was klingt, als sei der Tod ein Luftzug.

In diesem Haus in Dobsonville verbrachte die Sängerin Yvonne Chaka-Chaka ihre Jugend – mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern. Nach dem frühen Tod des Vaters zog die Mutter ihre Töchter allein auf – mit einem Putzfrauengehalt.

Meine Mutter war meine Heldin, sagt Yvonne Chaka-Chaka. In ganz Afrika wird die Sängerin wie eine Heilige verehrt, bei Mandelas 85. Geburtstag gehörte sie zu den Ehrengästen. Sie trägt ein sehr tiefes Dekolleté, und wenn sie sich bewegt, sieht man den schwarzen Spitzensaum ihres Unterrocks.

In den Tagen der Trauer ist sie von Rosebanks, wo sie eigentlich lebt, zurückgekehrt in ihr Elternhaus. In dem kleinen Wohnzimmer, das mit einem offenen Kamin, den betenden Händen von Dürer und den goldenen Schallplatten der berühmten Tochter geschmückt ist, begann Yvonne zu singen, mit einem Besenstiel als Mikrophon. Erinnerungen an Maisbrei-Armut, an die Hoffnungen der Kindheit und an den Kampf für die Freiheit schweben in der Luft, in diesem Wohnzimmer, in dem jetzt die tote Mutter aufgebahrt liegt. Als die Leichenträger die Schrauben des Sargdeckels mit einem elektrischen Schraubenzieher sirrend festziehen und den mit Lilien geschmückten Sarg schultern, halten sich die drei Töchter zitternd aneinander fest.

In dem zementierten Vorgarten singen sich die Nachbarinnen bereits seit Stunden ihre Trauer vom Leib. Im Schritttempo und mit heulender Sirene fährt der Cadillac mit dem Sarg Richtung Kirche, daneben laufen die Nachbarinnen, Klageweiber mit Rüschenschürzen und Wollmützen, Klageweiber, die immer zahlreicher werden und Halleluja rufen. Singend, klatschend und frohlockend begleiten sie die Tote auf ihrem letzten Weg – die gewaltigen Hüften im Rhythmus schwingend, bis selbst zufällige Passanten bewegt schlucken und sich wünschen, eines Tages auch so betrauert zu werden.

Die Tote gehörte zur Pfingstgemeinde, und die Kirche ist ein unscheinbarer Backsteinbau, mehr Turnhalle als Gotteshaus – was in Soweto allerdings nichts Besonderes ist, denn hier gibt es Kirchen in Drive-In-Supermärkten, Zirkuszelten und in Lagerschuppen. Keine Straßenkreuzung kommt ohne das „Wir können nicht so weitersterben“-Banner der Baptistenkirche oder das Jesus is our Lord der unitarischen Kirche aus, es gibt charismatische, methodistische und lutherische Kirchen, es gibt Katholiken und Adventisten und Pfingstler, 300 Kirchen konkurrieren miteinander, auf den Freiheitskampf ist ein erbittertes Ringen um Sowetos Seelen gefolgt.

Vor der Kirche fahren martialisch anmutende Hummer-Geländewagen vor, Range Rover Cayennes und die neuesten BMW-Modelle: die Autos der Bees – jener schwarzen Aufsteiger, die dem Black Economic Empoverment-Programm entsprungen sind, der Politik zur Förderung schwarzer Geschäftsgründungen. Auf der schmalen, staubigen Straße von Dobsonville glitzern diese Autos wie Raumschiffe. Ihnen entsteigen Frauen, die aussehen, als seien sie zum Pferderennen in Ascot unterwegs, mit wagenradgroßen, schwarzen Tüllhüten, auf denen Straußenfedern wippen, Frauen in High-Heels, mit Chanelbrillen und Chanel-Taschen und schmalen Chanel-Kostümen, die ihnen nur ganz enge Schritte erlauben. Neben ihnen stehen Greise, deren Augen hinter dicken, milchigen Brillengläsern trüb geworden sind. Und eine alte Frau in Wollmütze, Schürze und Söckchen – auf denen ganz klein das Wort Free steht.

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Eines Tages bemerkte ein Reiher, dass die Tauben ein ungleich besseres Leben führten: Sie werden im Taubenschlag gefüttert und getränkt, und wir Reiher plagen uns den ganzen Tag mit der Jagd nach Würmern ab! Also beschloss er, zu den Tauben in den Taubenschlag zu ziehen, wo es ihm anfangs auch sehr gut gefiel, er aß und trank und musste sich keine Sorgen mehr um den Kampf um die Würmer mehr machen. Nur eine Sache störte ihn: Dass abends immer ein Mann kam und den Taubenschlag abschloss. Deshalb beschloss der Reiher nach einiger Zeit, den Taubenschlag wieder zu verlassen. Als er zu seinen Artgenossen zurückkehrte, blickte man ihn misstrauisch an, niemand sprach mehr mit ihm. Was habt ihr gegen mich?, rief der Reiher, ich bin immer noch der Gleiche! Und die anderen Reiher sagten: Ja, aber du stinkst nach Taube.

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Ob die Bees hier vor der Kirche über das Gleichnis von dem Reiher lachen würden, die in der Schreibwerkstatt von Sowetos Schriftsteller Mthuthuzeli Machoba entstand? Manche Bees sind zu gewaltigen ANC-Oligarchen angeschwollen, sie tragen Kaschmiranzüge und englische Schuhe: Männer, die so aussehen, als hätten sie es gar nicht mehr nötig, zu gehen, als schöbe sich der Boden unter ihren Füßen zurück und brächte sie so zu dem gewünschten Ziel. Dali Tambo, Sohn des verstorbenen ANC-Präsidenten Oliver Tambo, Mandelas engstem Mitstreiter, fährt in einem weißen Jaguar mit weißen Ledersitzen vor der Kirche vor. Wie viele Oligarchen verdankt Oliver Tambo seinen Reichtum den nützlichen ANC-Verbindungen – die den ehemaligen Fernsehproduzenten an die Spitze einer Bergwerksgesellschaft katapultierten, die in Angola Diamanten abbaut.

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Die Bees können ihm gestohlen bleiben, und der ANC dazu, sagt Jack Moche, ein community leader, Vorsitzender der Nachbarschaftshilfe des 26. Bezirks von Soweto: Real politics is on the ground, sagt er, wahre Politik ist die Arbeit vor Ort in Soweto, wo es um das Überleben geht, wo die Hälfte der Leute arbeitslos ist, und wo Kinder wegen des Kindergelds gemacht werden. Früher habe der ANC gesagt: Ihr müsst die Regierung unregierbar machen, ihr dürft keine Miete bezahlen! Und heute sollen wir Grundsteuern bezahlen, weil es heißt: Schluss mit der Nicht-Bezahler-Mentalität! Aber wir waren früher arm und sind auch heute noch arm! Wer kein ANC-Mitglied ist, bekommt keinen Job, so einfach ist das, sagt Jack.

Jack ist ein Mann mit einem gewaltigen Leib, den er mit tänzelnder Leichtigkeit bewegt. Nachmittags trifft man ihn oft auf dem Green des Soweto Country Clubs, wo der Green eher ein Brown ist, wo Plastiktüten als Fahnen dienen, hochbeinige Vögel über Maulwurfshügel spazieren und es nach den vergärenden Schoten des Johannisbrotbaums riecht. Der legendäre Golf-Club von Soweto wurde bereits zu Apartheid-Zeiten gegründet, als Schwarze in den weißen Golfclubs nur als Caddies geduldet waren. Als Jugendlicher verdiente sich auch Jack Moche sein Schulgeld als Caddy für die Weißen, und heute mokiert er sich darüber, dass die Weißen dem Soweto Country Club rudelweise betreten, um Geld zu sparen: Die Aufnahmegebühren sind unschlagbar niedrig, und die Mitgliedskarte ist überall gültig. Und dann spielen sie in den weißen Clubs mit unserer Karte!, sagt Jack. Und die Bees? Die treten gleich in einen teuren weißen Golfclub ein.

Besonders die aus dem Exil Zurückgekehrten dächten nur daran, das schnelle Geld zu machen, sagt Jack, und ihm werde ganz schlecht, wenn die Reichen zu Beerdigungen nach Soweto zurückkehrten, wenn sie unter ihren Hüten und Sonnenschirmen auf dem Friedhof stünden und sich etwas abseits hielten, weil sie Angst hätten, sich schmutzig zu machen, wenn das Grab zugeschaufelt wird. Solche Leute brauche ich nicht, sagt Jack. Denn die werden mich nicht begraben.

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Vor dem Sarg steht ein Bild der Verstorbenen, es zeigt eine alte Frau mit einer weißen Filzkappe und einer Sonntagsbluse, deren oberster Knopf geschlossen ist. Sie lächelt schüchtern in die Kamera und hat so gar nichts gemein mit den Chaneltaschenträgerinnen, die sie hier betrauern. Eine Nachbarin hält eine kurze Rede und beschwört die Töchter der Verstorbenen, jetzt öfter in die Kirche zu gehen: Jetzt wo eure gottesfürchtige Mutter tot ist, kann niemand mehr für euch beten!

Der Reverend beginnt seine Rede so munter wie ein Conférencier auf einem Kreuzfahrtschiff, während Männer mit wippenden Schillerlocken und silberbeschlagenen Cowboystiefeln die Kirche betreten: Sänger, Produzenten und Musiker, deren Wichtigkeit sich wie eine Bugwelle durch die Gänge schiebt. Auf Zulu, das simultan in Sotho übersetzt wird, drückt der Reverend seine Freude über die Prominentendichte in der Trauergemeinde aus: Hier sind lauter Leute, die wir sonst nur im Fernsehen sehen, jetzt sehen wir sie live! Kaum sitzen die Männer auf den Plastikstühlen, fällt alle Musikproduzentenwichtigkeit und Hip-Hop-Allüre von ihnen ab. Im Angesicht der Greise in den verblichenen Nadelstreifenhosen nehmen sie wieder die demütige Haltung von Schuljungen ein.

Der Kirchenchor singt entfesselt seine Hymnen auf den Tod und auf das Leben, eine alte Frau mit silbernen Strümpfen beginnt frenetisch auf ihrer abgestoßenen goldenen Handtasche den Takt zu schlagen, sie jubelt und reißt die Arme hoch, als wollte sie den Tod umarmen. Und hinter ihr sitzen etwas steif vier weiße Südafrikaner. Sie haben sich diskret in die letzte Reihe gesetzt und wirken in dem Meer von schwarzen Gesichtern als litten sie unter einer rätselhaften Pigmentstörung.

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Pinky Tiro läuft mit einem Glas Erdnussbutter durch ihr Büro in Orlando West – und schiebt einen Löffel davon einem Kranken in den Mund, weil man die HIV-Medikamente nicht auf leeren Magen einnehmen darf. Pinky ist seit 16 Jahren HIV-positiv, sie hat einen Sozialdienst für Frauen und Kinder ins Leben gerufen, der auf Zulu „Vuka“ heißt: Youth and Women Empowerment Program, wie es in jenem sozialpädagogisch-missionarischen Duktus heißt, mit dem man in Soweto gegen den Tod und das Grauen und die Hoffnungslosigkeit zu Felde zieht. Die Hälfte aller Toten in Soweto sterben an Aids, sagt Pinky, jeden zweiten Tag stirbt jemand aus der Nachbarschaft. Wenn Pinky bei den Bestattungsunternehmern auftaucht, dann verstecken sie sich, weil sie wissen, dass Pinky wieder mal einen Sarg umsonst haben will. Und das, obwohl sie in ihrem Perlenpullover, der wie eine Fischhaut schillert, der violetten Brille und dem pinkfarbenen Lippenstift wie ein Fernsehstar aussieht und nicht wie eine Getriebene, die Siechen die Hand hält, Sterbende, für die das Leben nichts anderes war, als ein großes, vernichtendes Nichts.

Oft ruft man sie zu spät. Wenn der Sterbende sagt: Ruft Pinky, dann wissen die Verwandten Bescheid – und bitten Pinky, nicht auf der Beerdigung zu erscheinen. Hier stirbt man nicht an Aids, hier stirbt man an Lungenentzündung und an Tuberkulose.

Und manche sehen im Tod auf Raten den einzigen Ausweg: Weil HIV-Infizierte erst ab einer bestimmten Anteil von HI-Viren in ihrem Blut in den Genuss einer Behindertenrente kommen, tun sie alles dafür, um die Zahl der Viren zu erhöhen. Die Rente liegt bei 850 Rand, das sind 85 Euro.

Aber es gibt auch Hoffnungsschimmer, sagt Pinky, Wilhelmina beispielsweise, die HIV-positive Mutter zweier HIV-positiver Töchter. Wilhelmina lebt unweit von Pinkys Zentrum in dem üblichen Streichholzschachtel-Haus an einer stark befahrenen Kreuzung. Vier Zimmer für acht Personen. Darunter Wilhelminas Sohn, der nicht infiziert ist und der neuerdings eine Arbeit in der neuen Jabulani-Shoppingmall gefunden hat, und von dem Wilhelmina sagt, dass er too much intelligent sei, ihre Mutter, die Schwester mit ihrem Mann und der trunksüchtige Vater, von dem die Mutter eigentlich geschieden ist, den rauszuwerfen aber niemand das Herz hat – und der nicht wissen darf, dass Wilhemina jeden Abend um neun und jeden Morgen um halb sieben in ihrem Zimmer die HIV-Medikamente an ihre beiden Töchter verabreicht, an dem Küchentisch sitzend, eingezwängt zwischen einer riesigen Kühltruhe, dem Wohnzimmerschrank und einem kleinen Schwarzweiß-Fernseher. Wilhelmina zelebriert die Medikamentenvergabe wie heiliges Ritual: Der Verkehrslärm lässt die Fensterscheiben vibrieren, und Wilhelmina ordnet schweigend und konzentriert Arzneiflaschen, sie füllt Tabletten in Kästchen, wischt Spritzen ab und klopft den letzten Tropfen Medizin aus dem Messbecher – so ernst und weihevoll, als sei sie keine HIV-Infizierte, sondern eine Hohepriesterin beim Opfermahl. Ich lebe noch, sagt sie. Ich bin ein Vorbild.

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Der Trauergottesdienst in der Pfingstkirche dauert bereits seit mehr als einer halben Stunde, als plötzlich Winnie Mandela im Eingang steht, um sie herum vier Bodyguards und ein Kreis von Stille. In ihrem schwarzen Seidenkostüm sieht sie aus wie die Witwe eines mächtigen Herrschers, der alle Ehren ihres verstorbenen Ehemannes immer noch gebühren. Regungslos wie ein Monument steht sie da, eine Königin mit glatt gezogenen Haaren, die so lange in dem Eingangsportal stehen bleibt, bis man auf sie zukommt und sie auffordert, in der ersten Reihe neben den Ehrengästen Platz zu nehmen. Der Reverend dankt für die Anwesenheit von Mamma Mandela. Lächelnd erhebt sich Winnie und winkt der Trauergemeinde zu. Und schon geht ein Halleluja durch die Reihen.

Hier in Soweto hat man Winnie Mandela längst vergeben: Wir haben den Buren verziehen, warum sollen wir dann nicht auch Winnie verzeihen?, heißt es. 1991 stand Winnie Mandela vor Gericht: Wegen Morden und Folterungen, Entführungen und Vergewaltigungen, die von ihren Leibwächtern begangen wurden, den Mitgliedern des von ihr gegründeten Mandela United Football Teams. Ein Leibwächter sagte aus, auf Weisung von Winnie Mandela gehandelt zu haben. Winnie Mandela wurde zu einer Gefängnisstrafe von sechs Jahren verurteilt, die später in eine Geldstrafe umgewandelt wurde.

Aber Winnie gehört zu Soweto wie die gefegten Lehmböden und die vollgestopften Taxis. Sie ist Teil der Geschichte. Auf den Soweto-Touren ist ihre 21-Zimmer-Villa in Orlando West ein Glanzpunkt des Besichtigungsprogramms. Dank ihr heißt Orlando West nur „Beverly Hills“: Hier befindet auch der taubenblaue Bungalow von Bischof Desmond Tutu und Mandelas ehemaliges Wohnhaus, in dem Winnie allgegenwärtig ist: Ihre Fotos stehen in den Regalen des Küchenschranks neben Mandelas Ehrenurkunden: Winnie als junge Ehefrau, als Revolutionärin mit geballter Faust, als strahlende First Lady. Und am Ende der Ganges durch das Mandela-Museum sagt die Führerin: Menschen verändern sich nach einer so langen Trennung.

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Dorah Mtetwa glaubt nicht an den ANC, sie glaubt an sich. Und an die katholische Kirche. Als Dorah einmal in Soweto überfallen wurde, und man ihr eine Pistole an die Schläfe hielt, da hat sie den Rosenkranz gebetet. Getauft wurde sie als Methodistin, aber als sie zehn Jahre alt war, beschloss sie, zum katholischen Glauben zu konvertieren – nicht, weil ihr die Katholiken gottesfürchtiger erschienen, sondern weil diese anders als die Methodisten nicht von ihr verlangten, zum Gottesdienst im Rock zu erscheinen. Seitdem gehört sie zur Gemeinde von St. Philipps, wo sie im Kirchenchor singt und einmal im Monat in der Regina Mundi-Kirche aufzutritt – um an dem symbolträchtigen Ort, an dem sich einst der schwarze Widerstand versammelte, um die Wette fromme Choräle zu singen und unter dem Kruzifix Luftgitarre zu spielen – bis die Zuhörer vor Verzückung kreischend von den Kirchenbänken fallen.

Dorah ist 22 Jahre alt und wohnt mit ihrer Mutter in einer ockerfarbenen Mietskaserne, zwei Zimmer, Küche, Bad. Hier ist es nicht weit zur Jabulani-Shoppingmall – einer Straße, die einst als Kriegszone galt, und die heute so aussieht, als befände sie sich in der amerikanischen Provinz, wo die Welt aus großen Parkplätzen, Kentucky Fried Chicken, Mimmo’s Pizza Place und den Sonderangeboten von Mr. Price besteht.

Wie viele Mädchen in Soweto hat Dorah ihren Vater kaum gekannt. Die einzige Erinnerung, die sie an ihn hat, war das Gefängnis, wo sie ihn manchmal mit der Mutter besuchte. Später tauchte er nicht mehr auf, sondern zeugte er noch weitere sechs Kinder, mit sechs verschiedenen Frauen. Ich war allein, sagt Dorah, ich war immer allein.

Heute ist sie ein filigranes Mädchen mit einem Körper in Modelmaßen, der bereits bei vier verschiedenen Misswahlen prämiert wurde: bei Miss Southafrica, Miss Teen, Miss Soweto, zuletzt bei den Wahlen zur Miss-Five-Roses, eines Teeherstellers, der Dorah mit dem vierten Platz und 4000 Rand belohnte. 400 Euro, die sie umgehend auf ihr Sparbuch einzahlte.

Dorah studiert Steuerrecht an der Soweto University – und das Traumziel ihres Lebens ist, Steuerberaterin zu werden. Wenn sie von Steuerbemessungsgrundlagen und Steuersätzen spricht, glänzen ihre Augen, als ginge es um eine Filmkarriere. Zahlenkolonnen sind es, die sie gegen Sugardaddies, frühe Schwangerschaften und Aids immun machen. Man darf sein Leben nicht vergeuden, sagt sie.

An der Tür zu Dorahs Zimmer hängt ein Foto von Lady Di, Mutter Teresa und eine Kolumne des HIV-infizierten Kolumnisten des Sowetan Express, der dazu aufruft, die Würde des Mitmenschen zu respektieren. Lady Di und Mutter Teresa sind beide in dem gleichen Jahr gestorben, in dem auch Dorahs Vater starb. Eines Tages, sagt Dorah, werde ich meine Lebensgeschichte aufschreiben, dagegen ist die von Oprah Winfrey ein Witz.

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Das ist der Moment, als vor der Kirche die gepanzerte Limousine von Jacob Zuma vorfährt: Jenes skandalumwitterten und zugleich höchst populären ANC-Politikers, der wegen Korruption vor Gericht stand – und wegen Vergewaltigung einer Bekannten, die HIV-positiv ist. Den Richtern erklärte er, dass er sich mit einer Dusche statt eines Kondoms vor einer Ansteckung mit dem tödlichen Virus schütze. Der Reverend ruft in die Kirche: Wir begrüßen das ANC-Mitglied Jacob Zuma, unseren zukünftigen Präsidenten!, und Zuma schreitet lächelnd und händeschüttelnd durch die Kirche bis zum Rednerpult, gefolgt von vier schlanken Leibwächtern, von deren Ohren sich ein Kabel in den Kragen ihrer Maßanzüge ringelt. Er spricht auf Zulu, es sind sehr kurze und einfache Sätze – Sätze, die sich eignen, am nächsten Tag vom Sowetan Express zitiert zu werden. Die ganze Nation, samt ANC, beweint diese Mutter, sagt er. Die Frau, die hier vor Euch liegt, hat Früchte hervorgebracht, um die man uns in der ganzen Welt beneidet! Jeder in Afrika kennt Yvonne Chaka-Chakas Musik! Seid stolz auf eure Familie, seid stolz auf eure Nation! Die ganze Welt hat Respekt vor Südafrika!

Schließlich schreitet Yvonne Chaka-Chaka zum Mikrophon. Sie trägt eine Leopardenmütze und ein fuchsiafarbenes Kleid und sagt, dass sie keine Rede halten wolle, sondern dass sie ein Lied für ihre Mutter singen möchte, ein ganz kurzes nur. Zum ersten Mal wird es still in der Kirche. Die Köpfe sind geneigt, als sich Yvonne Chaka-Chakas Stimme erhebt. Sie singt nicht mehr als zwei Sätze: My mother died. And her last word was Jerusalem.

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Silence Dube ist ein stattlicher alter Herr, er ist ein Freund und Clubkamerad von Jack Moche, dem community leader. Jack sitzt jetzt hier bei ihm auf einer Polstergarnitur, die sich wie ein Gebirgszug durch das Wohnzimmer zieht. Anders als Jack, der in einem bescheidenem purpurosa Haus unweit des Bara-Krankenhauses wohnt, lebt Silence in einer Klinkervilla in Diepkloof Extension, the rich man’s acre, wie es hier heißt: Anstelle der Streichholzschachtelhäuser stehen hier Backsteinschlösschen mit holzvertäfelten Garagentüren und Barockstatuen in den Vorgärten, futuristische, flamingofarbene Villen mit grünem Rasen anstelle des üblichen gestampften Lehmbodens – und auf den Straßen ist niemand zu sehen, ganz so wie in den weißen Vororten.

Silence Dube wohnt inmitten von Stuck unter Ölstrich, afrikanischen Masken und goldenen Pharaos aus Porzellan. 1967 habe ich das letzte Mal für einen weißen Mann gearbeitet, sagt er. Er verkaufte erst Hühner, dann Eis, bis er als Taxi-Unternehmer reüssierte – all das in jenen Zeiten, als nicht nur die Apartheid schwarzen Unternehmern das Leben schwer machte, sondern auch die radikalen Schwarzen, die jeden erfolgreichen schwarzen Geschäftsmann als Büttel der Weißen brandmarkten. Im Jahr 1976, an jenem Tag, in denen die Schüler von Soweto gegen die Einführung von Afrikaans als Unterrichtssprache demonstrierten – und der Schüler Hector Pieterson als erster dafür mit dem Leben bezahlte, verschwand seine Tochter über Nacht.

Soweto brannte, sagt Silence, jeder fragte sich nur: Wo ist mein Kind? Als er nach Hause kam, stand seine jüngste Tochter weinend im Hof, sie hatte gesehen, wie ihre Schwester kurz nach Hause gekommen war, ihre Sachen in eine kleine Tasche gepackt habe und verschwunden war. Ich wusste doch gar nicht, dass meine Tochter politisch aktiv war, sagt Silence. Die Buren hielten das für eine Lüge, schlugen ihn auf ihren Verhören zusammen und boten ihm Geld an, um mit ihnen zusammenzuarbeiten. Der Vater sollte seine Tochter erst drei Jahre später wieder sehen, in Botswana – wo sie wie viele andere ANC-Kämpfer im Exil lebte, später dann in Mozambik, Swasiland, in der Sowjetunion und in Kanada. Heute arbeitet sie in Pretoria im Transportministerium, an leitender Stelle, wie Silence nicht versäumt, hinzuzufügen. Seine beiden Enkel sind in Kanada aufgewachsen, fern von Apartheid und schwarzem Widerstand ? in einem Wunderland, wo man vom Staat Geld geschenkt bekommt, wenn man keine Arbeit hat. Die Enkel sprechen weder Zulu, noch Sotho, sie sprechen nur Englisch und wollen auf keinen Fall in Südafrika leben. Als ihn seine Enkelin zum letzten Mal besuchte, wurde sie vor seiner Haustür ausgeraubt. Ein leerer Magen kennt keine Gesetze, sagt Silence entschuldigend.

Auf den politischen Kampf sei der wirtschaftliche Kampf gefolgt, und absurderweise spielten die Weißen heute eine größere Rolle bei der Unterstützung der armen Schwarzen, als ihre reichen schwarzen Brüder, bemerkt Silence, und blickt zu Jack auf dem Polstergebirge. Der ausnahmsweise nicht seiner Meinung ist. Es sei richtig so, dass die Weißen mehr für die armen Schwarzen leisteten, sagt Jack, schließlich laste auf den Weißen die historische Schuld der Apartheid. Nein, entgegnet Silence energisch, die Weißen sind doch nicht zur Wohltätigkeit verpflichtet! Die einzigen, die zu etwas verpflichtet sind, sind die Schwarzen, die vergessen haben, woher sie kommen.

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Jauchzend und singend verlassen die Trauergäste die Kirche. Die Frauen in den Rüschenschürzen wiegen sich lachend durch die Reihen, die alten Männer in den verblichenen Nadelstreifenanzügen tänzeln fingerschnipsend vorbei, ganz so, als sei der Tod ein Rockstar und die Trauer ein einziger Boogie-Woogie. Die einzigen, die hier weinen, sind die vier Weißen in der letzten Reihe. Während des ganzen Gottesdienstes haben sie schluckend um ihre Fassung gerungen, ihre Taschentücher geknetet und sich gefragt, wie es möglich ist, sich glücklich zu trauern. Jetzt tun sie so, als suchten sie in ihren Handtaschen nach neuen Taschentüchern, sie versuchen sich noch schnell ihre Sonnenbrillen aufzusetzen, aber ihre Tränen tropfen schon auf die Gläser.

Als Geste für die berühmte Tochter der Verstorbenen hat die Polizei den Verkehr gesperrt – so dass die Chaka-Chaka-Autokolonne mit blinkenden Warnleuchten geschlossen zum Friedhof fahren kann. Denn bei der wöchentlichen Beerdigungsflut geschieht es häufig, dass sich Trauergäste der falschen Autokolonne anschließen, sich auf dem Friedhof verfahren und am Ende an der falschen Beerdigung teilnehmen. Vor dem Friedhof von Avalon staut sich der Verkehr schon seit Stunden. Auf Sowetos Heldenfriedhof, wo in viele Grabsteine die Formel Died in Action eingraviert ist, sieht es an jedem Wochenende immer noch so aus, als finde hier ein Massenbegräbnis tapferer Kämpfer statt: Ein Gräbermeer, das bis an den Horizont reicht. Die Totengräber versenken die Särge eilig kurbelnd, und die Trauergäste versuchen sich gegenseitig mit ihren Trauergesängen zu übertönen, während sie in der roten, frisch aufgeworfenen Erde versinken. Und manchmal stehen Jugendliche an einem Grab und recken ihre geballten Fäuste in die Luft, ganz so wie damals, als man noch für etwas starb.

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Nichts sei den Menschen mehr heilig, sagt der Dominikanerpater Sikhosiphi Mgoza, der Pfarrer jener Gemeinde, in der die filigrane Dorah jeden Sonntag ihre Gebete singt. Beerdigungen seien für viele Sowetans nichts anderes, als eine Gelegenheit, umsonst zu essen und zu trinken. Sie fragen mich: Wo gibt es morgen ein Frühstück? Und meinen damit eine frühe Beerdigung. Eine späte Beerdigung bedeutet ein frühes Mittagessen. Und von den Friedhöfen werde alles geklaut, was sich wegtragen lässt. Grabsteine, sogar Särge würden von Sowetos Friedhöfen gestohlen – und weiterverkauft. Wenn Sie mich fragen, entwickeln wir uns in die falsche Richtung: Es ist eine Kultur des Todes, die uns treibt, sagt der Pater. Lebensweisheit fehle in Südafrika. Wir haben eine gute Ausbildung, aber sie ist nur mechanisch! Sicher, heute stünden alle Möglichkeiten offen – man kann studieren, aber jetzt wollten alle alles auf einmal haben, den Führerschein und den Porsche und das tolle Haus in Rosebanks, vielleicht noch fünfzehn verschiedene Mädchen aus Soweto, mit man abwechselnd ausgehen kann, Mädchen auf dem Schnell-reich-werden-Trip, Mädchen, die bereit sind, alles zu tun.

Sicher, auch er predigt Enthaltsamkeit, von der Kanzel. So verlangt es Rom. Aber wir befinden uns hier am anderen Ende der Welt, sagt der Pater. Wir stehen mit einem Bein im Grab. Was soll ich sagen, wenn fünf Mädchen schwanger sind, bevor sie 18 Jahre alt sind? Und was soll ich der Mutter sagen, die in den letzten zwei Jahren alle ihre sechs Töchter begraben hat ? Die alle an Aids gestorben sind? Wie soll ich sie trösten? Soll ich ihr sagen: Gott liebt dich?

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Meti Sophie Machaka wird nicht neben den Helden von Avalon begraben, sondern auf dem feineren Friedhof von Roodepoort, einem ehemals weißen Friedhof. Vor dem offenen Grab steht ein riesiges Sonnenzelt mit der Aufschrift Kupane Funerals, unter dem die engsten Familienmitglieder wie eine Königsfamilie auf kleinen zierlichen Stühlen sitzen, die drei Töchter miteinander umarmt in der Mitte. Unbeeindruckt von der Sonne, singen die alten Frauen ihre Trauergospels, während der Sarg ihrer Nachbarin vom Priester erneut geweiht wird. Die Bees drängen sich unter großen Schirmen zusammen wie scheue Vögel. Man blickt auf die Uhr, während die Bleistiftabsätze langsam in der weichen Erde versinken. Als etwas Wind aufkommt, kontrollieren die Frauen den Sitz ihrer Straußenfederhüte. Dann wird das Grab, wie es in Südafrika üblich ist, von den Trauergästen selbst zugeschaufelt. Junge Männer reißen sich ihre Jacketts vom Leib und drängen sich in weißen Oberhemden auf dem Erdhügel vor dem Grab. Totengräber, die sich gegenseitig die Schaufeln aus der Hand zerren, als gelte es, einen Rekord aufzustellen.

Yvonne Chaka-Chaka hält die Hände ihrer Schwestern. Und blickt auf das Grab ihrer Mutter. Die jungen Totengräber wirbeln mit ihren Schaufeln Staub auf, gelblich rot wie die Erde steht er im Gegenlicht und steigt wie ein zitterndes Fähnchen aus dem Grab auf. Als der Staub in den Himmel steigt, machen die Bees einen Schritt beiseite.

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