Die Mafiosi von nebenan

Die Mafiosi von nebenan

Vor zwei Jahren richtete die italienische Mafia in Duisburg ein Blutbad an – eine Art Betriebsunfall. Gewöhnlich agieren die Clans unauffällig, ihre Geschäfte betreiben sie in ganz Deutschland. Und die Polizei ist machtlos.

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Kaarst schläft noch. Die Stadt im Rheinland pflegt so nachdrücklich ihre Sonntagmorgenruhe, dass jede Handlung, die über den Erwerb einer Sonntagszeitung hinausgeht, als frevelhaft gilt. Die Märchengärten mit den messerscharfen Rasenkanten und den Ziehbrunnen-Attrappen, die Klinkerhäuser mit den spitzwinkligen Dächern, das Geschäft für aerodynamische Fahrradhelme in bunten Farben, die Gaststätte Bollerwagen – alles ruht. Nichts bewegt sich. Kein Auto, kein Bus, keine Papiertüte. Nichts, außer einer schlaffen Deutschlandfahne, die in einem Vorgarten hängt und sich leicht aufbläht, als der Wind in sie fährt.

Die ehemalige Pizzeria des mutmaßlichen Mafia-Killers Giovanni Strangio heißt heute O sole mio und liegt ziemlich genau in der Mitte zwischen der schlaffen Deutschlandfahne, der Gaststätte Bollerwagen und dem Kosmetikstudio Ladiseba, eine Abkürzung, hinter der sich die Aufforderung »Lass die Seele baumeln« verbirgt.

Unter dem blassblauen Himmel klingt auch das »O sole mio« wie eine Beschwörungsformel, steckt dahinter doch weniger italienische Lebensfreude als ein karger Saal mit blanken Tischen und kahlen Fenstern. Hinter der Pizzatheke stapeln sich Kartons. Quattro Stagioni zum Mitnehmen.

Bis vor zwei Jahren war hier Giovanni Strangio der Chef, ein gut aussehender junger Mann, 28 Jahre, mutmaßliches Mitglied eines der mächtigsten Mafia-Clans Italiens. Und einer der mutmaßlichen Schützen des größten Blutbads der Mafia in Deutschland: sechs tote Italiener aus Kalabrien, zwischen 16 und 38 Jahre alt, mit mehreren Kopfschüssen hingerichtet in der Duisburger Innenstadt. Sie wurden am 15. August 2007 um zwei Uhr morgens vor dem Restaurant Da Bruno in ihren Autos überrascht, fünf von ihnen waren sofort tot, der Sechste starb auf dem Weg ins Krankenhaus.

Zwei Jahre ist es nun her, dass dieses Blutbad das Land erschütterte. Und daran erinnerte, dass die Mafia nicht nur ein italienisches Problem ist. Die Mafia ist längst in Deutschland angekommen. Hinter der Duisburger Mordnacht verbirgt sich ein Jahrzehnte währender Krieg um die Vorherrschaft zweier Clans aus dem kalabrischen San Luca, der Pelle-Romeo und der Nirta-Strangio, ein Krieg, der seinen vorläufigen Höhepunkt in jener Hinrichtung im August fand.

Giovanni Strangio war ein Cousin der Frau des kalabrischen Mafia-Bosses Giovanni Nirta. Die 33-Jährige wurde 2006 an Weihnachten in San Luca erschossen. Ihr mutmaßlicher Mörder kam im Duisburger Kugelhagel um. Vermutlich ein Racheakt.

Mehr als ein Jahr lang war Giovanni Strangio einer der meistgesuchten Verbrecher Europas, bis ihn im März dieses Jahres ein Einsatzkommando aus italienischer, deutscher und niederländischer Polizei in einem Vorort von Amsterdam festnahm, zusammen mit seinem Schwager Francesco Romeo, der eine Zeit lang im Duisburger Restaurant La Gioconda gearbeitet hatte. In der Wohnung wurden Waffen und 575.000 Euro Bargeld gefunden. Im Mai dieses Jahres wurde Strangio nach Italien ausgeliefert, Anfang nächsten Jahres soll ihm und 40 weiteren Clanmitgliedern wegen Mafia-Zugehörigkeit der Prozess gemacht werden.

Die deutsche und die italienische Polizei feierte seine Festnahme mit Pressekonferenzen in Duisburg und in Reggio Calabria. Der Antimafia-Ermittler Pietro Grasso beglückwünschte die Fahnder zu ihrem Erfolg, der nordrhein-westfälische Innenminister Ingo Wolf pries die internationale Zusammenarbeit. Die Mafia in Deutschland: eine Erfolgsgeschichte. Vor allem für die Mafia.

Denn bis auf die Toten von Duisburg ist die Mafia in Deutschland unsichtbar geblieben. Anders als in San Luca, wo die Mafiosi mit Maschinenpistolen auf Straßenschilder und Müllcontainer zu schießen pflegen, um ihre Verachtung für den italienischen Staat zu demonstrieren, sind Giovanni Strangio und Francesco Romeo in Kaarst vermutlich sogar mit Helm Fahrrad gefahren.

Kaum waren die Leichen von Duisburg beerdigt, wussten die italienischen Geheimdienste bereits zu berichten, dass die beiden verfeindeten Clans der Pelle-Romeo und Nirta-Strangio zu einem Waffenstillstand aufgerufen hatten.

Danach widmeten sich die Familien in großer Eintracht der Öffentlichkeitsarbeit: Um die Geschäfte wieder laufen zu lassen, war es dringend notwendig, das beschädigte Image aufzupolieren. Schon während der Flucht gab Giovanni Strangio Interviews, in denen er sich als von der Justiz zu Unrecht verfolgter Italiener darstellte, dessen einzige Schuld darin bestanden habe, in San Luca geboren worden zu sein: Ein Mitarbeiter des Berliner Kuriers rühmte sich, per E-Mail ein Interview mit Giovanni Strangio geführt zu haben. Er sollte in Deutschland nicht der einzige unfreiwillige Propagandagehilfe der Mafia bleiben: Die Rheinische Post lancierte Presseberichte von unschuldig verfolgten Pizzabäckern, und manchem deutschen Journalisten wurden herzzerreißende Emigrantengeschichten in den Block diktiert. Von Sippenhaft war die Rede. Und von Rassismus.

Nicht aber von den 229 Clans und 900 Personen, die der Lagebericht des Bundeskriminalamts über die ’Ndrangheta in Deutschland aufführt: jene kalabrische Mafia-Organisation, die mit schätzungsweise 44 Milliarden Euro Jahresumsatz nicht nur die reichste Mafia-Organisation Italiens ist, sondern auch die beweglichste.

In Deutschland ist sie seit den sechziger Jahren zu Hause – in jenen Orten, in denen einst die süditalienischen Gastarbeiter Jobs fanden, an den Fließbändern, in den Stahlwerken, den Bergwerksstollen. Die klassischen Stützpunkte der Mafia sind Nordrhein-Westfalen, Bayern, Hessen und Baden-Württemberg. Städte wie Duisburg, Bochum, Oberhausen, Stuttgart und München – und seit Mitte der neunziger Jahre auch Erfurt, Leipzig, Eisenach. Allein von den Clans aus San Luca haben laut BKA-Bericht 200 Mitglieder ihren Wohnsitz in Deutschland gemeldet.

Zusammen mit den Ermittlern der italienischen Staatsanwaltschaft, der Polizei, der Sonderermittlungskommandos der Carabinieri, der italienischen Finanzpolizei und der deutschen Landeskriminalämter hat das Bundeskriminalamt im vergangenen Jahr eine interne Analyse erstellt, die der ZEIT vorliegt: über die ’Ndrangheta in Deutschland und über die Clans von San Luca – die Pelle-Romeo und die Nirta-Strangio. Familien, die nicht zufällig verantwortlich sind für das Blutbad von Duisburg, gelten sie doch als die mächtigsten Mafia-Clans in Deutschland.

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