Der Unerbittliche von Trapani

Der Unerbittliche von Trapani

In Büchern und Filmen ist die Mafia längst zum Kulturphänomen geworden. Doch wie sieht der alltägliche Kampf gegen die Verbrecher aus? Unterwegs mit Giuseppe Linares, dem Chef eines mobilen Einsatzkommandos auf Sizilien

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Auf der Fensterbank seines Büros steht ein Topf mit Basilikum und Minze. Er ist in diesem Raum der einzige Beweis dafür, dass es für Giuseppe Linares ein Leben jenseits der Mafiajagd gibt, jenseits von Objektobservationen, Abhörprotokollen und Wanzen, jenseits von all den Polizeidevotionalien, die hier an den Wänden hängen, Silberplaketten für erfolgreiche Festnahmen, ministerielle Danksagungen, auf Büttenpapier gedruckte Gedenken an die Opfer der Mafia. Manchmal steht Linares am Fenster und streicht während eines Telefonats verstohlen über die Minze und das Basilikum. Der Duft erinnert ihn an seine Kindheit, an den Garten seines Elternhauses und daran, dass es auch anders hätte kommen können. Glücklicher. Unbeschwerter. Leichtherziger. Auf einem anderen Planeten, vielleicht.

Giuseppe Linares ist 39 Jahre alt und leitet das mobile Einsatzkommando von Trapani. Er ist einer der erfolgreichsten Polizisten Siziliens. In nur sechs Jahren nahm Linares mehr als 460 Mafiosi fest, darunter bedeutende Bosse wie Vincenzo Virga, einen Stellvertreter des vor zwei Jahren verhafteten Gottvaters Bernardo Provenzano. Linares ist so erfolgreich, dass er rund um die Uhr mit einer Leibwache lebt und auf der Straße nicht mehr gegrüßt wird. Er ist so erfolgreich, dass die Mafia ihm einen mit Scheiße gefüllten Schweinekopf zukommen lassen möchte. Globalisierung hin, weltweite Investitionen her: Wenn es darum geht, Vorherrschaft zu demonstrieren, vertrauen die Mafiosi auf ihre immergleichen archaischen Botschaften.

Das Innenministerium hat Linares bereits mehrmals seine Versetzung angeboten – eine Belohnung, die ihn unschädlich gemacht hätte wie alle seine Vorgänger. Denn in Sizilien sieht das Schicksal für Polizisten, die tatsächlich gegen die Mafia kämpfen, nur zwei Möglichkeiten vor: entweder als Held zu sterben. Oder versetzt zu werden. Einer von Linares’ Vorgängern, Ninni Cassarà, wurde in den 80er Jahren von der Mafia ermordet. Ein anderer, Saverio Montalbano, wurde wegen »Unvereinbarkeit mit der Umwelt« in ein unbedeutendes Kommissariat versetzt, als er es wagte, in Trapani Mafiosi statt Hühnerdiebe zu verhaften. Nur Linares ist noch da. Seit zwölf Jahren.

Er zeigt auf eine Silbermedaille an der Wand: Die Stadt Castellamare del Golfo verlieh ihm wegen seines Einsatzes für die Opfer der Mafia die Ehrenbürgerschaft. Dann dreht er sich um und sagt, dass er kurz danach erst den Bürgermeister verhaftet und dann den Stadtrat wegen mafioser Infiltration aufgelöst hat. 30 Festnahmen.

»Natürlich wollen wir gewinnen«, sagt Linares. »Aber unsere Mannschaft hat Lumpen an den Füßen, und die haben Schuhe. Und den Schiedsrichter auf ihrer Seite. Wir leben hier in einem Land ohne Rückgrat, die Politiker wollen sich mit uns ein Image schaffen, man will hier eine Lungenentzündung mit Aspirin heilen.«

Während in den deutschen Medien oft noch das politisch korrekte Bild Siziliens im Antimafiakampf gepflegt wurde, war die Insel längst wieder bei sich selbst angekommen. Totò Cuffaro, der letzte sizilianische Regionalpräsident, wurde wegen Begünstigung der Mafia zu fünf Jahren verurteilt, was er mit einem kleinen Umtrunk feierte. Sein erzwungener Rücktritt wurde Cuffaro mit einem Platz im römischen Senat versüßt. Unzählige sizilianische Stadträte wurden wegen Mafiazugehörigkeit verhaftet, und die Geschäftsleute wagen nicht mehr dagegen zu protestieren, wenn die Mafia Schutzgelder erpresst.

Erst das Mafiamassaker in Duisburg machte zumindest den Deutschen klar, dass die Mafia nicht allein ein sizilianisches Problem ist. Was Linares amüsiert. Er hält die deutsche Polizei im Umgang mit der Mafia für leichtgläubig. Eine Polizei, die in Länderpolizeien zersplittert sei, könne gegen die Mafia nichts ausrichten. Das BKA allein sei nicht schlagkräftig genug, die deutsche Abhörpraxis ein Witz – wie auch die Tatsache, dass Mafiamitgliedschaft vom deutschen Gesetz nicht als Delikt betrachtet wird. Abgesehen davon, hätte sich die sizilianische Cosa Nostra nie eine so spektakuläre Entgleisung zuschulden kommen lassen wie die kalabrische ’Ndrangheta mit dem Massaker von Duisburg, das Heerscharen von Polizisten und Journalisten auf den Plan rief. Die Cosa Nostra ist die orthodoxe Kirche unter Italiens Mafiaorganisationen. Streng hierarchisch organisiert, muss jeder Mord hier von höchster Stelle abgesegnet werden.

Linares hofft, dass die deutsche Empörung in eine europaweite Antimafiagesetzgebung mündet. Aber bevor er weiter die Arglosigkeit der deutschen Kollegen beklagen kann, hat ihn seine Wirklichkeit wieder im Klammergriff. Denn einer seiner Leibwächter will wieder zurück in den normalen Polizeidienst. »Ich will nicht, dass du zum Schlachtvieh wirst wie dein Vater«, hat die Mutter des jungen Polizisten gesagt. Dessen Vater war ebenfalls Leibwächter und wurde bei dem letzten Attentat auf einen Staatsanwalt in Trapani schwer verletzt. Linares runzelt die Stirn, und seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, bis sie wie ein schwarzer Tuschestrich in seinem Gesicht stehen. Wieder scheint alles so fern zu sein, so vergeblich.

Sein Gegner ist Matteo Denaro – ein Mafia-Boss neuen Typs

Seit vier Jahren lebt er mit der Leibwache, seitdem ist es vorbei mit seiner Unsichtbarkeit, die ihm den Namen Batman einbrachte. Früher fuhr er nachts auf der Vespa zu Treffen mit Informanten. Heute lebt er von seiner Familie getrennt in der Questura, dem Polizeipräsidium, ein Stockwerk über seinem Büro. Seine beiden Kinder trifft er nur unter Bewachung.

Was für andere Zerstreuung, ist für ihn Bedrohung: Im Restaurant könnte am Nebentisch der Mann sitzen, dessen Telefon Linares abhört. Jede Frau, die ihn anlächelt, könnte die Frau eines Bosses sein. In der Bar könnte er neben dem Unternehmer stehen, gegen den er ermittelt – schon ein Kaffee könnte Linares diskreditieren. Sizilien ist eine Welt der Deutung, Sizilianer lesen aus Schweigen, aus hochgezogenen Augenbrauen, aus Zungenschnalzen, aus der Art, wie man seine Kaffeetasse hebt.

Auch der Fahnder liest diese Zeichen. Er betrachtet sich als Semiologen, der die Pausen in den Abhörprotokollen deutet. Der Name der Rose ist Linares’ Lieblingsroman. Labyrinth und Spur, ein Zeichen verweist auf ein Zeichen, das auf ein Zeichen verweist. »Glückliche, verehrungswürdige Nacht«, sagte Linares, als er dem Boss Virga die Handschellen anlegte – ein Zitat aus Umberto Ecos Roman.

Neben Linares’ Büro hat einer seiner Männer ein Dienstzimmer mit den Zeitungsausschnitten über die Verhaftungen tapeziert. Nicht Geld treibt die Männer hier, es ist Jagdinstinkt. Der Thrill, wenn sie den Boss im Schlaf überraschen – nachdem sie Monate auf ihn gelauert haben, als Albaner verkleidet, als Zigeuner, als grasschneidende Bauern.

Eine verblichene Liste nennt die Namen der untergetauchten Mafiosi. Der Boss Matteo Messina Denaro ist der letzte noch flüchtige Mafioso auf Linares’ Liste. Er ist 45 Jahre alt, seit 14 Jahren auf der Flucht und wird U Siccu genannt, der Dünne, oder auch Assicutato, der Verfolgte. Denaro herrscht über das Gebiet der Provinz Trapani und gilt nach der Verhaftung des palermitanischen Bosses Lo Piccolo als alleiniger Prätendent für die Spitze der Führungskommission von der Cosa Nostra – Nachfolger des vor zwei Jahren verhafteten Gottvaters Bernardo Provenzano. Von dem vermutet wird, dass seine Familie während seiner 43 Jahre währenden Flucht in Trapani lebte. In einer der Botschaften an Provenzano gibt Denaro ein Glaubensbekenntnis zum Gottvater ab: »Sie sagen, ich sei besser als Sie? Nein, ich bin nicht besser, ich erkenne mich in Ihnen wieder und glaube an unsere Sache – so bin ich aufgewachsen, und so sei es bis zu meinem Tod.«

Für den Fahnder ist Matteo Messina Denaro deshalb so interessant, weil er den Übergang von der alten zur neuen Mafia verkörpert: Er ist der letzte noch flüchtige Mafiaboss aus der Generation der stragisti, jener Mörder, die an den Attentaten gegen die Staatsanwälte Falcone und Borsellino beteiligt waren, als die Mafia noch blutrünstig, nach außen und innen mit Terror regierte. Und er ist der erste Boss der neuen Mafia – jener, die so gut wie nie mordet, die bestens gedeiht, vom weltweiten Drogenhandel, von öffentlichen Aufträgen, von EU-Geldern und von den diskreten Handreichungen italienischer Politiker – die mit sizilianischen Wählerstimmen vergolten werden. Die Mafiosi verehren Denaro wie einen Heiligen. »Ich möchte ihn ein Mal sehen, ein Mal anfassen dürfen«, seufzen sie am Telefon, ganz so, als träumten sie davon, mit den Fingerspitzen Küsse auf den Saum der Madonna zu tupfen. »Alles Gute kommt von ihm, wir müssen ihn anbeten.«

Denaro ist ein Boss, wie ihn die Mafia schon lange ersehnte: Endlich einer, der nicht mehr wie noch Provenzano in der Hütte eines Käsebauern hockt und darauf wartet, dass ihm seine Frau sein wöchentliches Wäschepaket zukommen lässt. Sondern einer, der sich in der Welt bewegt, als gehörte sie ihm. Einer, der das enge Moralkorsett der Mafia sprengte und auf der Flucht seinen Ruf als Frauenheld festigte – und das sizilianische Sprichwort Lügen strafte, dass befehlen besser sei als vögeln. Denaro traf sich mit Damen der besten Gesellschaft Trapanis in einem Hotel in Selinunt – und ließ dessen Besitzer kurz darauf ermorden, weil er sich von ihm nicht genügend respektiert fühlte.

»Würden Sie Messina Denaro kennenlernen, er würde Ihnen gefallen«, sagt der Fahnder Linares, »er ist großzügig, kann mühelos Konversation betreiben und die Perlfähigkeit eines Champagners beurteilen.« Wenn Linares von Denaro spricht, dann klingt seine Stimme voller Respekt. Ein Gegner, dem er auf Augenhöhe begegnen kann.

Viel von dem, was man über den flüchtigen Boss weiß, ist dem Abhörsaal neben Linares’ Büro zu verdanken. Wanzen, Peilsender und Mikrokameras sind die einzigen Waffen. In Trapani gibt es keinen einzigen abtrünnigen Mafioso mehr, sondern nur noch Ehrenmänner, die ins Gefängnis gehen und ihre Strafe absitzen, ohne irgendetwas zu verraten – anders als in Palermo, wo die Cosa Nostra bereits auf minderwertiges Material zurückgreifen musste, auf Mafiosi, die, kaum verhaftet, für einen Straferlass zu infame wurden, zu Ruchlosen.

Mit seinen Kindern darf der Fahnder nur noch unter Bewachung spielen

»Dieser Saal hat mehr als 300 Mafiosi festgenommen«, sagt Linares. Im Allerheiligsten flimmern Bildschirme und zeigen Männer, die gerade eine Bar verlassen, gepflegte Herren in weichen Mokassins. Der Raum darf nicht mal von Putzfrauen betreten werden, zwei Beamte sitzen mit Kopfhörern vor flackernden Tonspuren und machen sich Notizen. Lauschen ist ein zähes Geschäft. Die Mafiosi wissen, dass sie überall abgehört werden können, und schwören sich, nur im Freien über Geschäftliches zu reden. Aber es gibt immer ein schwaches Glied in der Kette: einen Erotomanen, einen Tölpel, der sich verquatscht. Auf den warten Linares’ Männer.

Glanzlichter sind, wenn der Erotomane seiner Angebeteten ein Stück von Stevie Wonder vorsingt. Oder wenn ein flüchtiger Mafioso seine taube Mutter anruft: »Ich bin es, Mama.« – »Enza? Bist du es?« – »Nein, ich bin es, Mama, ich!« – »Sprich lauter, Enza, warum sprichst du so leise?« – »Nein, Mama. Ich bin nicht Enza, verdammte Schweinerei, warum hörst du mich nicht, verflucht noch mal, Mama!« Das bringt sogar Giuseppe Linares zum Lachen. Sonst fixiert er sein Gegenüber mit Polizistenaugen, stets gefasst auf Täuschung, Heimtücke, Niedertracht.

1992 wurde Linares Polizist, nach den Attentaten auf die Staatsanwälte Falcone und Borsellino, in jenem historischen Augenblick, der hatte hoffen lassen, dass sich nun ganz Italien gegen die Mafia erheben würde. Der Staat zeigte sich entschlossen wie nie, und es war für Polizisten leicht, sich nach Sizilien versetzen zu lassen. Besonders, wenn sie 23 Jahre alt, in Trapani aufgewachsen und wegen ihres Bürgersinns bereits als Studenten vom Staatspräsidenten und Widerstandskämpfer Sandro Pertini ausgezeichnet worden waren. Il Pugnolo, »Der Stachel«, so hieß die Antimafiastudentenzeitung, für die Giuseppe Linares arbeitete. Das Foto vom Empfang beim Präsidenten zeigt junge, in neuen Jacketts verloren wirkende Männer, ganz so, als ahnten sie, dass ihr Leben von nun an die Bahn einer Billardkugel nehmen würde: Sie wurden Staatsanwälte, Richter und Polizisten. In Trapani nennt man sie Schergen.

Das letzte bekannte Foto vom Boss Messina Denaro ist ein Jugendfoto, auf dem er aussieht wie Giuseppe Linares bei seinem Empfang beim Staatspräsidenten. Beide tragen Pilotenbrillen, die zu groß sind für ihre schmalen Gesichter. Und beide haben die Lippen einer Frau. Vielleicht sind sich die Männer irgendwann begegnet, in einer Bar am Corso Vittorio Emanuele oder in der Via Garibaldi. Dort, wo die Ehepaare sonntags abends eingehakt entlangspazieren, die Frauen im Kostüm, die Männer in Anzug und Krawatte. In dieser Stadt aus gelbem Tuffsteinbarock, wo das Meer so nah ist, dass man es riechen kann, wo die Männer am Ende der Karfreitagsprozession wie Kinder weinen und die Frauen nicht spüren, wenn ihnen das heiße Wachs ihrer Kerzen auf die bloßen Füße tropft, weil sie um den vom Kreuz genommenen Gottessohn trauern wie um einen verlorenen Geliebten. Wo das Licht gleißend ist und nordafrikanisch. Und die Landschaft unter Zement begraben wurde.

Giuseppe Linares wuchs in Trapani als Lehrersohn auf und studierte Jura und Politikwissenschaften. Der Mafioso Matteo Messina Denaro stammt aus dem benachbarten Castelvetrano und wird in den Polizeiakten unter der Berufsbezeichnung »Bauer« geführt. Er ist das, was man hier einen Künstlersohn nennt: Schon sein Vater Francesco war einer der mächtigsten Bosse der Cosa Nostra, Mitglied der cupola, des Führungsgremiums. Sowohl Matteo als auch sein Bruder Salvatore und sein Vater Francesco wurden auf dem Gehaltszettel einer der reichsten Familien Trapanis geführt: der Familie des Forza-Italia-Senators und ehemaligen Präsidenten der Provinz Trapani, Antonio D’Ali, Großgrundbesitzer, Bankier, Unternehmer. Matteo und sein Vater wurden als Gutsverwalter geführt, der Bruder Salvatore als Angestellter der familieneigenen Bank. Man habe nichts von der mafiosen Verstrickung der Messina Denaros geahnt, sagte der Senator. Und wer etwas anderes behauptet, der wird von ihm verklagt.

Als Linares zum Chef des mobilen Einsatzkommandos von Trapani ernannt wurde, war er 27 Jahre alt. Er versuchte, aus den Fehlern seiner Vorgänger zu lernen: keine direkte Konfrontation mit den Mächtigen suchen. Sich eine Mannschaft aufbauen, der er vertraut wie Blutsbrüdern. Er weiß, dass ihm die Trapaner nie verzeihen werden, nicht disponibel zu sein. Dass sie darauf warten, dass ihr Held endlich fällt. Weil er nicht mehr nur Mafiosi festnahm, sondern auch mit der Cosa Nostra verbundene Politiker, Logenbrüder, Stadträte und Unternehmer.

Linares erzählt, dass einer der ersten Bosse, die er festnahm, der Vater einer Schulkameradin war. Der einzige Freund, der ihm blieb, ist Rino Giacalone, Mafiareporter der Zeitung Sicilia – der nichts anderes macht, als an Pressekonferenzen des Polizeipräsidiums teilzunehmen und über die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zu berichten. Lokalreportergeschäft eigentlich. Aber provozierend genug, dass der Präfekt persönlich seine Kündigung verlangte.

Mit seinem Freund Rino trifft sich Linares manchmal, in einem jener arabisch anmutenden würfelförmigen Häuser, das er vor Kurzem gekauft hat, um dem Bunkerleben in der Questura zu entkommen – und seine Kinder ein paar Stunden lang in einem Garten spielen zu sehen, in dem Orangenbäume wachsen und Jasmin blüht. Von der Dachterrasse sieht man das Meer – das nahm Linares für das Haus ein. Übernachten darf er hier jedoch nie, weil das Haus nicht den Sicherheitsstandards entspricht.

Während für den Fahnder Linares schon der Blick von der Dachterrasse Freiheit bedeutet, hinterlässt der Boss Denaro Spuren in der ganzen Welt: Kreditkartenabrechnungen von exklusiven Herrenausstattern in Rom, von Luxushotels in Griechenland und in der Toskana. Er verliebte sich in eine Österreicherin, die er auch besuchte, und verbrachte einen Teil seiner Flucht bei einer Frau in Bagheria unweit von Palermo, die ihm seitenlange Liebesbriefe schrieb und für ihn wegen Beihilfe ins Gefängnis ging. Ihr waren die Fahnder so dicht auf den Fersen, dass sie Denaro fast erwischt hätten – wenn nicht ein Carabiniere die versteckten Videokameras ausgeschaltet und dem Boss einen Tipp gegeben hätte. Ein anderes Mal stürmten die Jäger eine Wohnung in Trapani. Sie konnten aber nur einen Mafioso festnehmen, mit dem Messina Denaro in einer Wohngemeinschaft gelebt hatte. Vom Boss selbst blieben nur ein paar Designerhemden und ein Computerspiel.

Auf der Flucht zeugte Denaro eine uneheliche Tochter, die heute zehn Jahre alt ist und in Castelvetrano im Haus ihrer Großmutter lebt – zusammen mit ihrer Mutter, die, solange sie lebt, keinem anderen Mann mehr in die Augen schauen wird. »Eine Talibanin«, sagt Linares. »Eine lebendige Tote.«

Linares nennt seine Jagd meist nur lapidar »die Suche nach Matteo« – als ginge es um ein Kind, das sich verlaufen hat. Den Vater Francesco nennt er beim Kosenamen: Ciccio. »Begleite die Journalisten auf den Friedhof und zeige ihnen das Grab von Ciccio«, sagt er zu einem seiner Männer.

Castelvetrano ist eine Stadt der großen Ereignislosigkeit, nicht mal ein Hund bellt. Die Häuser mit den geschlossenen Fensterläden sehen aus wie Safes, in denen vermutlich Menschen aufbewahrt werden. Blicken weicht man aus. Denaros Elternhaus, in dem seine Mutter, seine Gefährtin und seine Tochter leben, ist ein armselig anmutendes dreistöckiges Haus unweit der Kirche, gräulich weiß, mit Milchglasscheiben. Der Polizist ruft: »Bloß nicht fotografieren!« So wie er auch ständig mahnt, dieses und jenes nicht zu schreiben, weil Messina Denaro, was seine Familie betrifft, höchst empfindlich sei, bis man sich am Ende fragt, wie gefährlich es sein kann, zu schreiben, dass das Mausoleum von Francesco Messina Denaro eine schmale, hohe Kapelle mit einem Christus aus Glasmosaik ist, verschlossen mit einem schmiedeeisernen Tor und zwei Ficus benjamina, die, wie der Polizist bemerkt, frisch gegossen sind. Die Mutter besucht das Grab täglich, häufig kommt sie mit ihren drei Töchtern. Einmal haben die Beamten hier Wanzen versteckt, um dem Zwiegespräch zu lauschen, das die Mutter mit ihrem verstorbenen Mann zu führen pflegt. Leider hat einer der Polizisten eine Vase nicht wieder an den richtigen Platz gerückt. Diesen pietätlosen Lauschangriff werde Denaro diesen Hurensöhnen nie verzeihen, verkündeten die Mafiosi.

»Mafioso haben einen Ehrenkodex, Politiker nicht«, sagt der Polizist

Des Todestages im Oktober gedenkt die Familie jedes Jahr nicht nur mit einem Gottesdienst, sondern auch mit einem Nachruf, manchmal sogar auf Latein: »Es gibt eine Zeit, um auf die Welt zu kommen und um zu sterben, aber nur demjenigen gelingt es, zu fliegen, der es will. Und auf ewig war dein Flug der höchste.« Linares’ Männer vermuteten erst, dass es sich dabei um eine verschlüsselte Botschaft handeln könnte. Es war dann aber nur ein Glaubensbekenntnis – zum eigenen Blut, zur Familie. »Die Mafia lebt von der Gewissheit, immer da zu sein«, sagt Linares. »Diese Gewissheit habe ich nicht.«

Aber selbst einer Ikone kann die Kontrolle in ihrem Herrschaftsgebiet entgleiten. Denaro lebt vielleicht seit Jahren im Ausland. »Und was ist das Schloss von Dracula ohne Dracula?«, ruft Linares. Ein junger Mafioso muss den Boss einmal gesehen haben, sonst verflüchtigt sich sein Zauber. Einmal den Saum der Madonna küssen.

Die beste Lösung wäre natürlich, wenn sich Denaro stellen würde, sagt Linares. Dann könnte er vermeiden, dass seine Helfershelfer mit ihm verhaftet würden. Denn dieser Tag wird kommen. Bis dahin gehen Linares und seine Männer ihrem Tagesgeschäft nach. Sie nahmen den ehemaligen stellvertretenden sizilianischen Ratspräsidenten und einen linken Bürgermeisterkandidaten wegen Unterstützung der Mafia fest, verhafteten neun Architekten, Unternehmer und Stadträte wegen Mafiazugehörigkeit, Beihilfe, illegalen Waffenbesitzes, sie deckten die Verbindung zwischen Mafia und Freimaurern auf, die bis in den obersten Rechnungshof des italienischen Verwaltungsgerichts reicht. »Das Problem ist nicht Messina Denaro«, sagt Linares, »das Problem sind die Politiker. Ein Mafioso hat einen Ehrenkodex, den haben Politiker nicht.«

Dann verlässt Linares sein Büro, wie immer im Laufschritt. Der gepanzerte Wagen bringt ihn zu seinem Sportstudio an der Uferstraße. Dreimal in der Woche stemmt er hier zwei Stunden lang Hanteln und weicht allen Blicken aus. Wenn er das nicht täte, sagt er, würde er jemanden umbringen.

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