Erst der Kampf, dann die Kunst. Letizia forever.

Ihre eindringlichen Fotos über die Mafiakriege in Palermo, aber auch über das einfache sizilianische Leben gingen um die Welt. Dabei habe sie sich nie als Künstlerin betrachtet, sagt Letizia Battaglia heute. Vielmehr ging es ihr darum, mit der Kamera die Wirklichkeit einzufangen und zu erzählen. Petra Reski hat die berühmte italienische Fotografin in den vergangenen dreißig Jahren mehrfach getroffen und bei ihrem Kampf gegen die Mafia begleitet.

Vor einigen Jahren war ich zusammen mit Letizia Battaglia in Amsterdam eingeladen; sie stellte ihre Fotos in einer Kunstgalerie aus, ich hatte ein Buch über die Mafia in Deutschland veröffentlicht. Grund genug, uns beide zu einer Podiumsdiskussion einzuladen, die den Titel «Women against Mafia» trug. Eigentlich ein unerträglicher Gemeinplatz, dachte ich, aber gut, wenn es der Sache dient.

An der Podiumsdiskussion nahm auch eine italienische Abgeordnete teil, die ihre Partei in der parlamentarischen Antimafia-Kommission vertrat. Die Dame tat, was Abgeordnete in solchen Fällen meist tun: Sie sagte, dass ihre Partei vor allem auf Prävention setze, sie rühmte die heilende Kraft der Kultur, betonte, dass gerade die Schulen und die Erziehung der Kinder eine zentrale Rolle spielten, und unterstrich, wie wichtig es sei, dass auch die Frauen gegen die Mafia kämpften. Weshalb insbesondere Letizia Battaglia ein grosses Vorbild für alle sei.

Es folgte ein Anstandsapplaus, und Letizia blickte so gequält wie immer, wenn jemand glaubt, dass die Mafia beseitigt werden könne wie eine Rechtschreibschwäche. Nachdem der Applaus verklungen war, sagte sie gedehnt, dass sie schon alles gesehen habe: Frauen gegen die Mafia, Kinder gegen die Mafia, Arbeiter gegen die Mafia. Und dass gute Gefühle allein gegen die Mafia gar nichts ausrichten können.

Der Kompass des Lebens

Letizia Battaglia – das ist die absolute Abwesenheit von Opportunismus. Sie hat vor der Wahrheit keine Angst, im Gegenteil. Die Wahrheit war für sie stets der Kompass ihres Lebens; sie hat für sie gekämpft, selbst wenn sie sich dadurch Nachteile eingehandelt hat. Und auch heute, wo sie mit ihren 87 Jahren als lebende Legende verehrt wird und drei Filmemacher ihr Leben verfilmt haben, ist sie nicht bereit, sich in die Rolle des Denkmals ihrer selbst zu fügen.

Wim Wenders hat sie 2008 in «Palermo Shooting» verewigt, der italienische Staatspräsident hat ihr zum 80. Geburtstag gratuliert und die Rai erst kürzlich eine zweiteilige Dokufiktion über ihr Leben gedreht. Letizia lässt sich auch vom Alter nicht in die Knie zwingen. Keine Altersmilde, keine Resignation, kein Bedauern. Stattdessen pink gefärbte Haare, Ausstellungen, Debatten und Workshops in dem von ihr geschaffenen Zentrum für Fotografie. Und Zigaretten bis zum letzten Atemzug. «Ich fühle mich nicht nur als Fotografin, ich fühle mich auch als jemand, der sich nicht von Macht, Ruhm oder Erfolg verführen lässt, als jemand, der mehr vermitteln will als nur ein fotografisches Zeitdokument», sagt sie 2021 im Gespräch mit dem Autor Goffredo Fofi, um klarzumachen, dass sich an ihr und ihrem unbedingten Willen zur Wahrheit nichts geändert hat.

Kennengelernt habe ich Letizia Battaglia 1989, als im Osten der Beton bröckelte und auch in Sizilien das Fundament zu wanken schien, auf dem die Mafia mehr als ein Jahrhundert lang ihre Herrschaft aufgebaut hatte. Ich sollte über den «Frühling von Palermo» schreiben, über die von Giovanni Falcone und Paolo Borsellino ausgelöste Aufbruchsstimmung. Die todesmutigen Antimafia-Staatsanwälte wurden drei Jahre später von der Mafia in die Luft gesprengt. Letizia war eine Protagonistin dieser Zeit: keine sizilianische Madonna, sondern eine atemlose Umstürzlerin, eine Fotografin im Dienst der Revolution, ihrer Revolution. Eine rothaarige Rebellin, die sich mit 36 Jahren neu erfunden und aus einer bürgerlichen sizilianischen Ehefrau in eine kettenrauchende Kämpferin ver- wandelt hatte: die erste Antimafia-Fotografin Siziliens. 1985 war sie als erste Europäerin mit dem W.-Eugene-Smith-Preis für Humanistische Fotografie ausgezeichnet worden, einem Preis, von dem sie bis heute sagt, dass er den Lauf ihres Lebens verändert habe.

Ein ganz einfacher Anfang

Bei unserem ersten Treffen war Letizia 54 Jahre alt, «Stadträtin für Lebensqualität», erste und einzige grüne Stadträtin in Palermo: Sie hatte sich mit der gleichen Leidenschaft in die Politik geworfen wie zuvor in die Fotografie. Letizia vergass schnell, dass ich gekommen war, um sie zu porträtieren; viel wichtiger war ihr, meine Mafiakenntnisse innerhalb einer Woche von null auf hundert zu bringen, weshalb sie mich mit Namen,

Morden und Mafiaverbindungen bombardierte. Sie belächelte mich, wenn ich etwas nicht begriff, zeigte mir Strassenecken, an denen Polizisten niedergestreckt, Staatsanwälte im Kugelhagel zerfetzt und glücklose Mafiabosse von ihren Gegnern hingerichtet worden waren. Wir fuhren in ihrem Dienstwagen, Letizia zündete sich eine Zigarette nach der anderen an, die alle im Fahrtwind sofort wieder erloschen, was sie zu ignorieren versuchte, weil sie mir gerade die Bedeutung der frisch mit Palmen bepflanzten Uferpromenade für Palermos Wiedergeburt erklärte und Amore mio ins Autotelefon rief – wobei unklar war, ob sie damit ihren Lebensgefährten, einen der von ihr befehligten Stadtgärtner oder einen Antimafia-Mitstreiter meinte. Und mittendrin versuchte ich, sie zu ihrer Berufung als Fotografin zu befragen.

Letizia zog an ihrer erkalteten Zigarette und fand es banal, über ihre Fotos zu sprechen. Im Grunde war doch alles ganz einfach gewesen! 1971 hatte sie sich von ihrem Mann getrennt, war nach Mailand gezogen und hatte als Kulturkorrespondentin bei der sizilianischen kommunistischen Tageszeitung «L’Ora» begonnen. Und weil sich Geschichten mit Fotos besser verkauften als ohne, hatte sie angefangen zu fotografieren. Fertig. So einfach kann Kunst sein. Bald darauf war sie nach Palermo zurückgegangen, wo sie zur Fotochefin von «L’Ora» ernannt wurde. Da war Letizia 40 Jahre alt und hatte sich gerade in einen dünnen 22-jährigen Jungen verliebt, Franco Zecchin, mit dem sie von nun an fast 20 Jahre lang zusammen atmen, fotografieren, schlafen, essen, trinken, träumen, streiten und kämpfen sollte. Und telefonieren. Alle zwei Minuten. Amore mio.

Verpflichtung zur Wahrheit

Und selbst wenn ihre Fotos heute in den berühmtesten Galerien der Welt ausgestellt werden, hat das nichts an Letizias Verpflichtung zur Wahrheit geändert: «Ich bin keine Künstlerin, ich habe mich nie als eine betrachtet, aber ich glaube, dass man mit einer Kamera das ausdrücken kann, was man ist, und zwar in einer einzigartigen Verbindung mit der Wirklichkeit. Du nimmst sie mit in deine Kamera und gehst hinaus, um die Wirklichkeit durch dich zu erzählen.»

Damals wohnte Letizia in der Altstadt, allein das ein Akt des Widerstands, denn das Bürgertum näherte sich diesem Teil Palermos nur selten und mit ehrfürchtiger Vorsicht – wie einem wilden Tier, das einen anfallen könnte, wenn man ihm den Rücken kehrt. 40 Jahre mafiose Stadtverwaltung hatten den Exitus der Altstadt herbeigeführt. 40 Jahre, in denen Palermos Bürgertum die Augen verschlossen hatte vor den korrupten Bürgermeistern und katzbuckelnden Stadträten, den unterwürfigen Architekten und käuflichen Stadtplanern, denen der Verfall der Altstadt nicht schnell genug gehen konnte, um endlich auch dort jene Wohntürme hochzuziehen, mit denen sie Palermos Gesicht bereits entstellt hatten.

Letizias Wohnung steckte bis zur Decke voller Archivkisten, Aufrufe stapelten sich auf dem Boden, Manifeste waren auf Tischen ausgebreitet. Ständig gingen Leute ein und aus, Gewerkschafter, Kommunisten und Dialektdichterinnen, bärtige Männer, die im Selbstverlag Bücher über die Mafia in ihrem Dorf veröffentlicht hatten, Sänger von Ethno-Rockgruppen und Mütter, deren Söhne von der Mafia umgebracht worden waren: Aktivisten einer Revolution, die, wie mir schien, unmittelbar bevorstand. Letizia erklärte Verbindungen, Ideen und Vorhaben und gab die Hoffnung auf meine Bildbarkeit nicht auf. Sie stellte mich allen vor, auch ihrer Tochter Shobha, Fotografin im Dienst der Sache wie sie, mit der ich fortan jahrzehntelang zusammenarbeiten sollte.

Heimatverbundene Abenteurerin

Die 1980er waren die Jahre der grossen Mafiakriege, die Corleonesi hatten in Palermo die Macht ergriffen, fast täglich gab es Tote. Unter den Mafiosi, aber auch unter Staatsanwälten, Richtern, Polizisten – und Letizia, Franco und Shobha waren meist die Ersten am Tatort. Wie alle guten Reporter hörten sie den Polizeifunk ab. Und fotografierten von Kugeln durchsiebte Leiber, blutige Rinnsale und verzweifelte Witwen.

Obwohl viele ihrer Fotos so sorgsam komponiert wirken, als hätte ein neorealistischer Regisseur das Grauen arrangiert, ging es Letizia stets erst um den Kampf und dann um die Kunst. Sie kämpfte gegen kleinmütiges Bürgertum, gegen überkommene Moralvorstellungen und gegen präpotente Männer. Sie fotografierte Giulio Andreotti, als er einem Mafiaboss die Hand zur Begrüssung reichte – was der Politiker Jahrzehnte später zu leugnen versuchte, als er wegen Unterstützung der Mafia vor Gericht stand und Letizias Foto zu den Beweismitteln gehörte. Letizia betrachtet sich nicht als Künstlerin, aber auch nicht allein als Fotografin: «Es gibt Fotografen, die denken in Kategorien wie ‹Doppelseite›, ‹Cover im Querformat›, ‹vertikal›. Die interessieren mich nicht, mit denen will ich nichts zu tun haben, auch wenn ich anerkenne, dass sie wissen, wie man mich rührt, wie man Bilder macht. Und natürlich ist auch das ein Geschäft. Aber ich bevorzuge Fotografen, die losziehen, sich mit anderen treffen und immer wieder aufbrechen.»

Andreotti by ©LetiziaBattaglia

 

«Wir waren entfesselt», sagt Letizia. «Wenn wir mal in einem alten VW-Bus verreisten, dann nie länger als eine Woche, weil wir die Stadt nicht länger verlassen konnten. Wir liebten Palermo.» Und es klingt diesmal, als spreche sie von einem Drogenabhängigen, den sie vergeblich zu retten gehofft hatte. «Palermo ist eine Krankheit. Eine schreckliche Krankheit, die ich gerne loswerden würde, denn sie hat mich immer wieder gezwungen, schwierige Entscheidungen zu treffen, ohne dass ich daraus einen Vorteil ziehen konnte. Dazu gehört auch die Entscheidung zu bleiben. Ich bin von Natur aus eine Abenteurerin, dieses Bewusstsein ist mir geblieben, aber auch wenn ich heute manchmal unterwegs bin, bleibe ich immer in Palermo, meine Basis ist Palermo.»

Von der Ehefrau zur Fotografin

Inzwischen wurde die Altstadt dank europäischer Fördergelder auf Hochglanz gebracht, und das verkehrsberuhigte Stadtzentrum hat sich in eine gigantische Fress- und Feiermeile fürTouristen verwandelt. Alle zwei Schritte ein Take-away, Pizza zum Mitnehmen, Aperol Spritz – genau wie in Venedig, Rom oder Florenz. Letizia lebt mittlerweile in einem Hochhaus aus den 1970ern, das eine frappierende Ähnlichkeit mit einem Luftschutzbunker hat. Auf zwei Stockwerken wohnen auch zwei ihrer Töchter. In diesem Haus lebte Letizias Ex-Ehemann – mit dem sie sich vor seinem Tod wieder versöhnte, «weil verzeihen befreit».

Dass Letizias Leben Filmemacher inspiriert hat, verwundert kaum. Die Tochter bürgerlicher Sizilianer, die nach Höherem strebten, wuchs bis zu ihrem achten Lebensjahr in Triest auf, wohin die Eltern der Arbeit wegen gezogen waren. Der Schock ihres Lebens war, nach Palermo zurückzukehren, wo sie die Klosterschule besuchte und ihr Vater sie nachmittags zu Hause einsperrte, weil es sich nicht gehörte, wenn ein Mädchen draußen spielte. Um ihrem Vater zu entkommen, heiratete sie mit 16 den Erben einer Kaffeerösterei-Dynastie. Er hatte sie vor der Schule angesprochen, ein junger, schöner Mann, der ihr eine kristallene Bonboniere schenkte. Das Paar erzwang Letizias Glück mit der fuitina, der «Liebesflucht». Mit dieser damals typisch sizilianischen Lösung stellten verliebte Paare die Eltern vor vollendete Tatsachen: besser als Minderjährige verheiratet als entehrt.

Super-8-Aufnahmen belegen: Das junge Ehepaar stand dem Glamour einer Silvana Mangano und eines Marcello Mastroianni in nichts nach. Aber als Letizia studieren wollte, erklärte sie ihr Mann für verrückt. 15 Jahre lang führte sie das Leben einer sizilianischen Ehefrau, dann erlitt sie einen Kollaps, einen psychisch bedingten Infarkt. Ihr Mann schickte sie zu den besten Ärzten Italiens, zur Schlafkur in die Schweiz – und als alles nichts half, zum Psychotherapeuten in Palermo. Nach jahrelanger Psychoanalyse nahm sie ihre drei Töchter und verliess ihren Ehemann.

Späte Würdigung

Heute gilt Letizia als lebende Legende, aber das war nicht immer so. Noch 2007, als man ihr in Deutschland den Erich-Salomon-Preis verlieh, gab es in Palermo keine Ausstellung ihr zu Ehren, kein Archiv für ihre Arbeiten, nichts. «Ich werde hier totgeschwiegen», sagte Letizia. «Als sei ich schuldig an dem, was ich gesehen habe.»
Erst als Leoluca Orlando im Jahr 2012 wieder zum Bürgermeister gewählt wurde, wurde Letizias Lebensleistung gewürdigt. Fünf Jahre später konnte sie in Palermo ihren Lebenstraum verwirklichen: In den Cantieri Culturali alla Zisa, einem Kulturzentrum in ehemaligen Werkhallen, hat sie das Centro Internazionale di Fotografia aufgebaut. In dem internationalen Zentrum für Fotografie befindet sich das Fotoarchiv der Stadt, es gibt Ausstellungen und Workshops. Einmal traf ich Letizia dort: Inmitten eines grossen Trubels stellte sie die Frau vor, die ihr 1980 Modell gestanden hatte und als «Mädchen mit dem Fussball» zu einer Ikone der Fotografie wurde. Das Bild zeigt ein ernstes, nachdenkliches und melancholisches Mädchen mit einem riesigen Fussball. «Jedes Mal, wenn ich kleine Mädchen fotografierte, zitterten meine Beine, weil ich in ihnen immer mich selbst wiedersah, das kleine Mädchen, das ich gewesen war, mit diesem Blick auf die Welt, zart und zugleich ernst, makellos», sagte Letizia.

Dieses Mädchen mit dem unbedingten Willen zur Wahrheit – das ist sie auch heute noch.

Dies ist mein letztes Portrait von Letizia, es entstand im Januar 2022 für Credo. Hier auch eine Version auf Englisch und eine Übersetzung ins Italienische. Wer mehr über Letizia, ihre Tochter Shobha, ebenfalls Fotografin und meine Zusammenarbeit und Freundschaft mit beiden erfahren will, dem empfehle ich mein Buch „Mafia. Von Paten, Pizzerien und falschen Priestern“. Sehenswert ist auch dieser Dokumentarfilm über Letizia:  „Shooting the Mafia“ .

Letizia Battaglia starb am 14. April 2022 in Palermo. Ihr Sarg wurde im Rathaus von Palermo aufgebahrt, ihre Asche im Meer von Mondello verstreut. 

 

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