Dreißig Jahre – und immer noch keine Wahrheit

Und wieder werden wir lesen, dass die Messstationen sizilianischer Seismographen die Bombenexplosion am 23. Mai 1992 als kleines Erdbeben mit Epizentrum bei Capaci verzeichneten, als die 572 Kilo schwere Bombe in einem Abflussrohr unter der Autobahn explodierte. Wieder wird das Trompetensolo  um 17.56 Uhr und 48 Sekunden für die Gedenkminute erklingen, wie immer wird an der Magnolie in der Via Notarbartolo die Nationalhymne gesungen, wie immer werden Politiker Reden halten. Und wie immer werden sich Antimafia-Staatsanwälte diesem Schaulaufen fernhalten, weil sie sich daran erinnern, wie Giovanni Falcone zu Lebzeiten systematisch diskreditiert, isoliert und in seiner Arbeit behindert wurde. 

Bevor die Gedenkfeier beginnt, wäre es gut, sich zu vergegenwärtigen, wie die Situation für die Mafia in Italien zur Zeit aussieht: In Sizilien läuft zur Zeit ein Wahlkampf, der vor allem von zwei Protagonisten bestimmt wird: von dem wegen Mafiabegünstigung vorbestraften ehemaligen Regionalpräsidenten Totò Cuffaro (mit dem ich mal per pizzino kommuniziert habe) und dem wegen Mafiabegünstigung vorbestraften ehemaligen Forza-Italia-Gründer und Senator Marcello Dell’Utri

Silvio Berlusconi, der mit seiner Forza Italia der Allparteienregierung Draghis angehört, durfte sich allen Ernstes für das Amt des Staatspräsidenten bewerben, obwohl gegen ihn auch heute noch Ermittlungen der Staatsanwaltschaft von Florenz laufen, weil er verdächtigt wird, zu den Auftraggebern der Attentate gegen Falcone und Borsellino zu gehören. Der einzige, der Berlusconis Kandidatur kritisierte, war der Bruder des ermordeten Staatsanwalts Borsellino.

Die wenigen verbliebenen Antimafia-Staatsanwälte, die, sofern sie nicht bereits pensoniert sind, auf die Verbindung zwischen Politik und Mafia hinweisen – werden sabotiert und isoliert: Zuletzt Nicola Gratteri, dessen Kandidatur für die Leitung der nationalen Antimafia-Staatsanwaltschaft scheiterte und dessen Leibwache massiv erhört wurde, nachdem weitere Attentatspläne gegen ihn bekannt wurden.

Copyright: Shobha https://www.shobha.it

Der italienische Verfassungsgerichtshof ist vornehmlich damit beschäftigt, die wirkungsvollsten Antimafia-Gesetze abzuschaffen, darunter die Hochsicherheitshaft und die lebenslange Haft für Mafiosi: Das italienische Verfassungsgericht erklärte 2020 die lebenslange Haft für Mafiosi als verfassungswidrig  – falls es das italienische Parlament bis Mai 2022 nicht schaffen sollte, den Artikel 4 des italienischen Strafvollzugsrechts zu reformieren. Und in dem Zusammenhang ist es nicht uninteressant zu erwähnen, dass die Justizministerin Marta Cartabia ehemalige Präsidentin des italienischen Verfassungsgerichts ist.

Und so hat sich bis heute die, wie der inzwischen auch pensionierte Antimafia-Staatsanwalt Roberto Scarpinato seit Jahren beklagt, das beschwichtigende Narrativ durchgesetzt, derzufolge Giovanni Falcone und Paolo Borsellino ermordet wurden, weil sie als aufrechte Richter, deren Arbeit  in den Urteilen des Maxiprozesses gipfelte, das Symbol eines Staates waren, der der Cosa Nostra einen tödlichen Schlag versetzt und den Mythos ihrer Unbesiegbarkeit erschüttert habe. Die Täter, die Drahtzieher des mafiösen Übels, sind identifiziert und verurteilt. Sie haben die altbekannten Gesichter derjenigen, die in der kollektiven Vorstellung bereits zu absoluten und allumfassenden Mafia-Ikonen geworden sind: Totò Riina, Bernardo Provenzano und andere solche Figuren; meist Ex-Bösewichte, die sich in einem unbeholfenen Italienisch ausdrücken und deren physiognomische Züge im Sinne Lombrosos ihr inneres grausames Wesen offenbaren.

Das ist das, was wir glauben sollen. Dahinter aber verbirgt sich das, was Giovanni Falcone als „gioco grande“ bezeichnete, das „große Spiel“: Als die Attentate gegen Falcone und Borsellino begangen wurden, hatte der italienische Staat seine Glaubwürdigkeit schon lange verloren – nicht nur, weil den Attentaten bereits andere vorausgegangen waren, die zu dem gehörten, was man in Italien die „Strategie der Spannung“ nennt, und wohinter sich Geheimdienste, Mafia und Politiker verbergen, sondern auch, weil hunderte italienischer Politiker zur Freimaurerloge P2 gehörten: Minister, Generäle und Richter, die erst einen Staatsstreich planten und sich dann damit begnügten, die Demokratie zu untergraben. Parallel zu Falcone und Borsellinos Ermittlungen deckten Mailänder Staatsanwälte den Korruptionsskandal Mani pulite auf: „Saubere Hände“. Hunderte von Politikern, Unternehmern, Verwaltungsbeamten und Geschäftsleuten bereicherten sich an öffentlichen Geldern: Folglich ist nicht schwer zu verstehen, dass für die Protagonisten des „großen Spiels“ nicht die Mafia das Problem war und ist, sondern diejenigen, die ihr im Weg stehen. 

Und deshalb wurde auch nicht bekannt, dass der ehemalige Informant der italienischen Geheimdienste Elio Ciolini im März 1992 die Attentate vorausgesagt hatte. Er stand im Verdacht, mit rechtsextremen Gruppierungen und einigen Protagonisten der Geheimloge Propaganda Due zusammenzuarbeiten und saß im Gefängnis wegen Betrugs. Aus der Zelle heraus hatte er an den Untersuchungsrichter einen Brief geschrieben, mit dem Betreff: »Neue Strategie der Spannung«. Darin kündigte er Ereignisse an, welche die öffentliche Ordnung destabilisieren würden: Attentate an öffentlichen Orten, Morde an Politikern mit dem Ziel der politischen Neuordnung. Ciolini wurde als Schmierfink bezeichnet, als Wichtigtuer, als irrer Verschwörungstheoretiker – und hatte fast alle Attentate jenes Jahres präzise vorausgesagt, einschließlich der Morde an den beiden Richtern und der darauf tatsächlichfolgenden politischen Neuordnung: 1994 wurde Berlusconi zum Ministerpräsidenten gewählt.

Und wer sich jetzt sagt: Ach ja, Italien, der sei daran erinnert, dass die alleinige Mafiazugehörigkeit in Deutschland bis heute kein Strafbestand ist. Und weil das nicht reicht, gelten die Speicherfristen für die polizeilichen Ermittlungssysteme in Deutschland auch für Mafiamitglieder: Nach einer bestimmten Frist wird die Mafiamitgliedschaft getilgt – ganz so als könne man aus der Mafia aussteigen wie aus einem Golfclub.

 

Ein Kommentar

  1. Deprimierende Analyse – aber dass es diese kluge, mutige Stimme gibt, nährt letzte Funken Hoffnung. Danke, Petra Reski

Schreibe einen Kommentar zu Sabine Brandi Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert