Das Berluscron

Wandbild in Rom

Die italienische Politik ist, abgesehen von einigen historischen Ausnahmen, ziemlich vorhersehbar: Die großen Interessen gewinnen. Auf 40 Jahre Andreotti folgten 20 Jahre Berlusconi. In jenen Jahren war der Ausgang der Wahlen so vorhersehbar wie in der UdSSR: Berlusconi gewann. Und wenn er aus Versehen nicht gewann, kaufte er ein paar Abgeordnete und stürzte die Regierung. 

Unangenehme Überraschungen wie bei den Wahlen 2018 wurden umgehend neutralisiert: Die Macht weiß, dass wer mit Hunden zu Bett geht, mit Flöhen aufsteht. Heute stehen die einstigen Rebellen der Fünfsterne-Bewegung mit dem Champagnerglas in der Hand auf Empfängen in Rom.

Mit Draghi wird Italien de facto von einer parakommissarischen Regierung großer Interessen geführt. Die nicht die Interessen der Mehrheit der Italiener sind. Aber es ist nicht zu befürchten, dass sich die Italiener dagegen auflehnen. Es waren die Attentatsserien von 1992-93, die ihnen zuletzt bewiesen haben, dass Auflehnung keine gute Idee ist. 1994 kam Silvio Berlusconi an die Macht. Wo er bis heute blieb. 

Ein einziges Mal bin ich ihm persönlich begegnet. Es war 2011, in Turin, Berlusconi sollte eine Pressekonferenz abhalten, bevor er an einem Abendessen mit norditalienischen Industriellen teilnahm. Sie zahlten 500 Euro dafür, um mit ihm Ravioli essen zu dürfen. Weil ein paar Gegner auf Facebook zu einer No-Berlusconi-Night aufgerufen haben, war die Innenstadt von Turin von einem Sicherheitsaufgebot abgeriegelt worden, das einem Nato-Gipfel zur Ehre gereicht hätte. Punk-Mädchen mit flamingofarbenen Federboas und dünne Jungs mit hängenden Hosenböden standen auf der Straße, mit Trillerpfeifen und Trommeln demonstrierten sie für ein freies Pfeifen in einem freien Land. Die Federboa-Mädchen riefen „Witzfigur, stell dich endlich den Gerichten!“, und einige Grillini skandierten: „Er wird von unseren Steuergeldern dafür bezahlt, sich vor uns zu schützen“ – bis eine Tränengasbombe alle zurücktrieb. 

Als ich mich zum Hotel vorgekämpft hatte, hieß es, die Akkreditierung für die Pressekonferenz sei bereits abgeschlossen. Aber ich sei eigens aus Deutschland angereist, um il Presidente zu sehen, log ich beherzt. Und so durfte ich in einem kleinen Saal Platz nehmen, der von Scheinwerfern grell erleuchtet und mit den üblichen hellblauen Volk-der-Freiheit-Vignetten dekoriert war. Der Saal war voller Sicherheitsleute, die hinter Volk-der-Freiheit-Abgeordneten standen, in nachtblauen Anzügen und blankpolierten schwarzen Schuhen. Volk-der-Freiheit-Damen in Chanelkostümen warfen sich Volk-der-Freiheit-Luftküsse zu und tupften sich die glänzenden Stellen von der Stirn, die Sicherheitsleute zischelten etwas in ihre Jackenärmel, und dann kam er. 

Er wurde von den Leibwächtern wie eine Kommode in den Saal geschoben. Obwohl ich ihn bereits tausendfach gesehen hatte, in Haupt- und Spätnachrichten, in den Talkshows der Hofschranzen, auf den Titelseiten der Wochenmagazine, überraschte mich, feststellen zu müssen, dass er wirklich existiert. Und wie klein er dabei ist. Kaum größer als ein Schulkind. Und wie geschminkt. Außer Leichen vor der Beerdigung hatte ich noch nie einen Menschen gesehen, der so stark geschminkt war wie er, mit mandarinengelbem Make-Up, dunkel nachgezogenen Brauen und aufgemalten Haaren. Wäre er Versicherungsmakler oder Friseur, würde man hinter seinem Rücken tuscheln und sich ansonsten von ihm fernhalten – weil sein Äußeres bereits so befremdet, dass man über das Innere gar nicht mehr nachdenken möchte. 

Nun wurde Berlusconi von den „Mitte-Rechts-Parteien“ zu ihrem Kandidaten für die Wahl zum Staatspräsidenten erklärt, die am 24. Januar beginnt. Wie die FAZ berichtete, sei man sich einig, „dass Silvio Berlusconi die richtige Person ist, um in dieser schwierigen Situation das hohe Amt zu bekleiden“. Weil das italienische Staatsoberhaupt die nationale Einheit des Landes repräsentiere, müsse der Amtsträger über „Autorität, Ausgewogenheit und internationales Ansehen“ verfügen. Dieses Anforderungsprofil erfülle Berlusconi beispielhaft. Sagten die Vertreter der Mitte-Rechts-Koalition, zu der außer Giorgia Meloni von Fratelli D’Italia und Lega-Chef Matteo Salvini neuerdings auch der venezianische Bürgermeister Luigi Brugnaro gehört, der mit seiner Partei „Coraggio Italia“ bei der Wahl zum Staatspräsidenten 32 Wahlmänner stellt – die bei den verschiedenen Wahlgängen entscheidend sein können: Die Wahl ist geheim, gewählt ist, wer die Zweidrittelmehrheit erreicht. Kommt es bei den ersten drei Wahlgängen zu keiner Entscheidung, reicht im vierten Wahlgang die relative Mehrheit: 505 Stimmen. 

Seit Wochen wird darüber berichtet, wie Berlusconi ohne Unterlass wirbt, telefoniert, beschenkt, verspricht: Er nenne es die Eichhörnchen-Taktik, heißt es: Nüsschen für Nüsschen, Stimme für Stimme wird gesammelt. 

Und auch Manfred Weber (CSU), Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei, unterstützt Berlusconis Kandidatur ohne jede Einschränkung. Das erstaunte sogar den Reporter des Corriere della Sera, der verwundert nachfragt: „Berlusconi ist jedoch ein umstrittener Name mit einer beachtlichen gerichtlichen Vergangenheit.“ (Ähem. Gerichtliche Vergangenheit. Jetzt bloß nicht noch das Wort Mafia in den Mund nehmen.) Aber Manfred Weber lässt sich nicht aus der Ruhe bringen: „Berlusconi war ein Zeitgenosse, ein Parteiführer, ein Premierminister. Er war eine sehr starke Führungspersönlichkeit mit einem politischen Ansatz, der für manche irritierend war. Als Demokrat mag ich starke Standpunkte, ich schätze starke Führungspersönlichkeiten sowohl von rechts als auch von links mit Ideen, die die Menschen anerkennen und für die sie stimmen können. Dafür respektiere ich Berlusconi.“

Dass der politische Ansatz für manche irritierend war, mag möglicherweise daran liegen, dass Berlusconi die Mafia noch finanzierte, als er bereits Ministerpräsident war. Aber gut.

Schließlich war es Helmut Kohl, der Berlusconis Forza Italia 1998 an die Brust der Europäischen Volkspartei gedrückt hat. Weder aus Deutschland noch aus anderen EU-Staaten hat man damals dazu kritische Stimmen vernommen. Romano Prodi sei zwar gegen die Aufnahme von Berlusconis Partei in die EVP gewesen: „Aber ich habe mich vom deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl überzeugen lassen, der mir sagte, dass er eine sehr gute Meinung vom Vorsitzenden von Forza Italia habe, und ich muss sagen, dass die Zeit ihm Recht gegeben hat. Ich habe einen Fehler gemacht“. 

Ja, die Zeit stimmt milde. Vielleicht liegt Romano Prodis Milde auch daran, dass er sich daran erinnert, wie seine Wahl zum Staatspräsidenten 2013 von 101 „Scharfschützen“ zunichte gemacht wurde – und Berlusconi möglicherweise das Gleiche bevorsteht: „Scharfschützen“ nennt man die Abgeordneten, die im Schutz der geheimen Wahl nicht für den eigenen Kandidaten stimmen. So wie die 101 Parteigenossen von Romano Prodi, die ihm bei der Wahl zum Staatspräsidenten in den Rücken fielen – indem sie sich der Stimme enthielten oder Namen von Pornodarstellern oder der geschiedenen Ehefrau von Silvio Berlusconi auf den Wahlzettel schrieben. 

Selbst von Berlusconis potentiellen Gegnern (kursiv, weil man kaum mehr Gegner von Berlusconi sehen kann, selbst Giuseppe Conte, Präsident der Fünfsterne-Bewegung, hat es für nötig befunden zu sagen, dass „Berlusconi auch Gutes getan habe“) nimmt niemand das Wort „vorbestraft“ in den Mund, wenn er von Berlusconi spricht. 

Das Verruchteste, was man Berlusconi vorwirft, ist, „divisivo“ zu sein, so wie es Enrico Letta, Vorsitzende des Partito Democratico  formulierte, also spaltend, polarisierend, statt vereinigend. Aber für polarisierend hält Enrico Letta Berlusconi nicht wegen der Vorstrafe wegen Steuerhinterziehung, nicht wegen der 40 ad-personam-Gesetze, Amnestien und großzügigen Verjährungsfristen, die Berlusconi in seinen grob geschätzt 80 Prozessen vor weiteren Verurteilungen schützten, nicht wegen seiner Finanzierung der Mafia, die rechtskräftig nachgewiesen wurde. Nein, Letta hält Berlusconi als Kandidaten deshalb für polarisierend, weil Berlusconi Chef einer Partei ist und kein Kandidat einer unabhängigen Institution.

Jetzt kann man natürlich denken, dass Berlusconi nur als Vogelscheuche dient und sein Konkurrent Draghi zum Staatspräsidenten gewählt werden wird, weil, wie überall kund gegeben wird: „Wir können auf jemanden wie Draghi nicht verzichten“. Allerdings birgt es das Risiko, dass die schöne Einheit der Parteien ohne Draghi zerfallen würde, und es Neuwahlen geben müsste. Und die wollten die Parteien nicht. Um das Jahr 2023 dennoch geräuschlos zu erreichen (sehr geräuschlos, um die Pensionen der Abgeordneten zu retten, auf die sie in voller Höhe erst nach Ablauf einer Legislaturperiode Anspruch haben), könnte eine Draghi-Marionette als Premierminister eingesetzt werden. Draghi also de facto sowohl Premierminister als auch Staatspräsident sein. 

Das ist die eine Möglichkeit. Die auch nicht viel beruhigender ist, angesichts der Tatsache, dass dies einer Aushöhlung der italienischen Verfassung gleichkäme. Auch weil schon die Umstände unter denen Draghi an die Macht gehievt wurde, mehr als dubios sind. Draghis einziges politisches Programm ist das der internationalen Finanzmärkte. Also: Privatisierungen ohne Ende, Beschränkung sozialer Rechte und der Justiz – so wie es zuletzt Matteo Renzi mit seiner Verfassungsreform im Sinn hatte. Als Berlusconi damit anfing, dieses Programm umzusetzen, regte man sich noch darüber auf. Heute wird Draghi von den Medien in Italien als Mann der Vorsehung gefeiert, was per copy&paste auch in vielen deutschen Medien ankommt.

Die andere Möglichkeit ist, dass Berlusconis Eichhörnchen-Taktik nicht die erwarteten Nüsschen einbringt, er sich deshalb zurückzieht – und eine Frau präsentiert. Die als Präsidentin seine Politik für ihn verwirklicht. Etwa die Senatspräsidentin Maria Elisabetta Casellati, die sich vor allem durch die Nutzung der Flugbereitschaft für 124 private Flüge in einem Jahr hervorgetan hat oder Letizia Moratti, Ministerin unter Berlusconi und jetzige stellvertretende Ministerpräsidentin der Lombardei. Draghi würde also Ministerpräsident bleiben, Berlusconi würde sich ehrenhaft zurückziehen und zum Senator auf Lebenszeit gewählt werden.

Vermutlich fragen sich einige jetzt dennoch: Wie? Berlusconi? Warum darf der überhaupt kandidieren, ist der nicht vorbestraft? 

Ja, er ist vorbestraft. Aber: In der italienischen Verfassung steht kein einziger Satz darüber, dass ein Vorbestrafter das Amt des Staatspräsidenten nicht antreten dürfe. Vermutlich reichte die Fantasie der Verfassungsväter nicht aus, um sich eine solche Perversion vorstellen zu können.

2013 wurde Berlusconi wegen Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilt. Vier Jahre Haft. Drei Jahre entfielen wegen eines Amnestie-Gesetzes, es verblieb ein knappes Jahr, das er mit Mühlespielen im Altersheim als „Sozialdienst“ verbüßte. Aber zur Strafe gehörte auch, dass er sein Mandat als Senator zurückgeben musste und bis 2019 keine politischen Ämter hätte bekleiden dürfen, gemäß dem Gesetz zur Bekämpfung der Korruption: „Legge Severino“, benannt nach der damaligen Justizministerin. Nach diesem Gesetz dürfen Menschen, die letztinstanzlich zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt wurden, bei Wahlen nicht kandidieren und sechs Jahre lang kein politisches Amt ausüben. Berlusconi klagte dagegen und erreichte, wegen „guter Führung“ schon 2018 wieder rehabilitiert zu sein. 

Alle sind gleich, aber manche sind gleicher, schrieb Orwell.

Im Jahr 2001 sagte der Journalist Indro Montanelli über Berlusconi: »Ich will, dass er gewinnt, ich lege Gelübde ab und bringe der Muttergottes Opfer, damit er gewinnt, damit die Italiener sehen, wer dieser Herr ist. Berlusconi ist eine Krankheit, die nur mit einem Impfstoff geheilt werden kann, mit einer schönen Injektion von Berlusconi im Palazzo Chigi, Berlusconi im Quirinal, Berlusconi wo immer er will, Berlusconi im Vatikan. Nur dann werden wir immun sein. Die Immunität, die wir durch den Impfstoff erhalten«.

Dass die Kandidatur Berlusconis in Italien nicht nur diskutiert, sondern auch als normal akzeptiert wurde, beweist, dass der Impfzyklus mit dem Berluscron noch nicht abgeschlossen ist. Vielleicht muss Berlusconi erst zum Staatspräsidenten gewählt werden, um Italien zu heilen. Das Problem ist nur, dass die Italiener dabei auf der Strecke bleiben würden. 

Ich weiß, dass man in Deutschland Berlusconis Kandidatur lediglich als Witz betrachtet. Was auch daran liegt, dass man im Grunde von Italien nicht mehr wissen will, als wo die besten Restaurants und Strände sind. Ich denke aber auch, dass diese Worte des Bruders des ermordeten Staatsanwalts Paolo Borsellino uns alle angehen: „Italien ist die Republik der Massaker“. Was hier passiert, ist kein Witz. Sondern blutiger Ernst. 

Ab Montag wird gewählt.

 

 

 

2 Kommentare

  1. Aktion Eichhörnchen ist für Herrn B. fehlgeschlagen …

    Sehr verehrte Frau Reski,

    er hat offenbar nicht genug Nüsse gefunden und aufgegeben. Gelegentlich gibt es auch mal gute Nachrichten..

    Was ist eigentlich mit Gianna Nannini? Kandidiert sie wirklich oder war das nur ein Scherz?

    Sonntägliche Grüße

    Kurt Noll

    1. Ja, aber das ändert nichts an dem Schaden, den die alleinige Diskussion um Berlusconi als möglichen Kandidaten in Italien bereits angerichtet hat. Einmal wieder hat er bewiesen, dass er die Parteien im Nu manipulieren kann. So gesehen empfinde ich es nicht als gute Nachricht, im Gegenteil, ich hätte es dem Land sogar gewünscht, den Schierlingsbecher zu trinken – auf dass es wirklich geheilt würde von der Berlusconi-Krankheit. Den dieser Virus bleibt virulent, in Italien, selbst dann noch, wenn Berlusconi unter der Erde liegt. Gianna Nannini hat nur provoziert, um klar zu machen, wie irre der Vorschlag war, Berlusconi zu kandidieren.

Schreibe einen Kommentar zu Kurt Noll Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert