Venedigs Troubadix

Ich lebe zu lange in Italien, um mich der italienischen Maxime „Nimm das Schlechteste an und du liegst richtig“ entziehen zu können. Folglich hat mich der Brugnaros Sieg bei der venezianischen Bürgermeisterwahl nicht überrascht (54% der Stimmen der gesamten Komune, 60% der Stimmen des Festlands, fast 34% der Stimmen Venedigs, 57% der Stimmen der Inseln) – dies um so mehr, als wir in Zeiten von Trump, Orban, Johnson, Kaczinski und anderen Gestörten leben und in Italien auf zwanzig Jahre Berlusconi zurückblicken, der ungeachtet aller Enthüllungen über seine Mafiaverbindungen nicht einmal, nicht zwei Mal, sondern vier Mal wieder gewählt wurde.

Hinzu kommt, dass es außer uns von Terra e Acqua 2020 (4% der Stimmen in der ganzen Komune, 2% auf dem Festland, 10% in Venedig, 5% auf den Inseln) in Venedig praktisch keine oppositionelle Bürgerliste gab – zumindest keine, die nicht mit irgendwelchen Parteien verbandelt gewesen wäre.

Der Wahlerfolg unseres Mini-Trumps ist aber vor allem denjenigen zu verdanken, denen es gelungen ist, ihn während des Wahlkampfs davon abzuhalten, in der Öffentlichkeit zu sprechen – weil er jedes Mal, wenn er den Mund aufmacht, mehr Unheil anrichtet als ein Hagelschauer im Sommer. Immerhin verdanken wir ihm bereits Perlen wie „Geld raus!“, das er Elton John entgegen warf, nachdem der Venedigs Bürgermeister dafür kritisiert hatte,  Bücher aus Schulen verbannt zu haben, die Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern darstellen. Wie Troubadix in Asterix und Obelix, (will immer singen, obwohl niemand seinen Gesang erträgt – ein Gesagt, der sogar Wolkenbrüche innerhalb geschlossener Räume hervorruft, weshalb Troubadix am Ende gefesselt und geknebelt wird) wurde auch unser Mini-Trump während des Wahlkampfs daran gehindert, den Mund aufzumachen.

Sein einziger öffentlicher Auftritt fand vor dem Unternehmerverband statt, und da erklärte er, wie er gedenke, die Angestellten der Stadt für sich zu gewinnen: Nämlich indem er den Angestellten Prämien zahle und darauf setze, dass die Ehefrauen derjenigen, die keine Prämien kassierten, ihre Männer fragen würden: »Bist du eigentlich blöd?« Auf dieses „Hühnerfutter“ (O-Ton) setze er:

Deshalb wunderte es uns nicht, dass er, kaum dass die Wahl gelaufen und er wieder frei reden konnte, die Venezianer bedrohte, die schuldig sind, ihn nicht gewählt zu haben: „Es reicht jetzt mit dem »Ah, da kommt der provinzielle Brugnaro, der die Probleme Venedigs lösen soll.« Damit ist jetzt Schluss. Die Mülltonnen Venedigs mache ich nicht mehr sauber. Wenn Euch wirklich die Zukunft von Venedigs Altstadt am Herzen liegt und da wohnt, dann ist jetzt Schluss mit dem Vollstopfen und dem Geld in den Taschen. Die sollen sich mal die Ärmel hochkrempeln.“ 

Die Schuld der Venezianer besteht also darin, dass ihn 66 Prozent nicht gewählt haben. Seine Wähler sitzen auf dem Festland und werden seit Jahrzehnten als, pardon, Stimmvieh benutzt – obwohl auch das Festland mit dem gleichen Zynismus regiert wird, wie Venedig: Mestre hat sich mit seinen billigen Hotelsilos in die Hauptstadt der Drogentoten und der Einkaufszentren verwandelt. Sowohl in Venedig als auch auf dem Festland leben wir in einer schizophrenen Situation, in einem demokratischen Notstand, würdig einer Bananenrepublik (bei allem Respekt für Bananen).
 
Uns in Venedig beeindruckt Brugnaros Drohung wenig: Wenn Brugnaro ankündigt, sich nicht mehr um die Probleme Venedigs zu kümmern, dann ist das ungefähr so, als hätte Trump angekündigt, nicht mehr die Probleme der Schwarzen/Frauen/Schwulen/Latinos zu lösen.
 
 
Immerhin zieht jetzt unser Bürgermeisterkandidat Marco Gasparinetti in das venezianische Rathaus als Stadtrat ein. Und ich möchte mich bei allen Anhängern von TerraEAcqua2020 bedanken, insbesondere aber den Bloglesern, die uns so großzügig unterstützt haben: Grazie mille!
 
Dank des Einsatzes vieler Freiwilliger, des Engagements von Marco Gasparinetti und einigen Säulen der Bürgerinitiative Gruppo 25 Aprile haben wir immerhin einen Achtungserfolg erreicht: In nur zwei Monaten haben wir es geschafft, dass unsere Bürgerliste als Outsider in das venezianische Rathaus einziehen konnte.
 
Grazie, grazie, grazie. Und: Free Venice!

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