Wenn Venedig stirbt

Hier die Übersetzung des Vortrags, den Salvatore Settis in Venedig hielt – am 18. 12.2012 veröffentlicht von der Süddeutschen Zeitung:

Wenn Venedig stirbt

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Von Salvatore Settis

Städte sterben auf dreierlei Weise: Wenn ein gnadenloser Feind sie zerstört (wie die Römer einst Karthago); wenn ein fremdes Volk sie gewaltsam besetzt und die Einheimischen zusammen mit ihren Göttern vertreibt (wie Tenochtitlan, die Hauptstadt des Aztekenreichs, das die spanischen Eroberer 1521 vernichteten); oder wenn die Bewohner ihr Gedächtnis verlieren und unbemerkt zu Fremden, zu Feinden ihrer selbst werden. So war es in Athen, das am Ausgang seiner klassischen Epoche zuerst die politische Unabhängigkeit, dann seine kulturelle
Autonomie einbüßte, um am Ende jede Erinnerung an sich selbst zu verlieren. Nur wir, denen in der Schule ein wohlfeiler Klassizismus gelehrt wurde, haben ein Bild von Athen im Kopf, das für Jahrhunderte wie unbeweglich im leuchtenden Weiß seines Marmors ruhen sollte.

Ein falsches Bild. Schon der große Gelehrte Michael Choniates, aus Konstantinopel stammend, war gegen Ende des 12. Jahrhunderts fassungslos ob der Ignoranz der Athener, die nicht mehr die leiseste Erinnerung an die glorreiche Antike ihrer Stadt besaßen. Der Parthenon diente als Kirche, deren Wände mit von Weihrauch und liturgischen Gesängen umwehten Ikonen bedeckt waren. Später wurde daraus eine römisch-katholische Kathedrale, die von den Venezianern und Florentinern ausgeraubt wurde. Als Athen dann im Jahr 1456 von den Türken
erobert und der Parthenon in eine Moschee verwandelt wurde, war die Stadt ihres Namens verlustig gegangen.

Die Selbstvergessenheit der Athener hatte freilich viel früher eingesetzt: Schon um 430 n. Chr. berichtete der Neuplatoniker Proklus, der nahe der Akropolis wohnte, von einem Traum, in dem ihm Pallas Athene, die Schutzgöttin des Parthenons, erschien und ihn um Obdach in seinem Haus bat, da sie aus ihrem Tempel vertrieben worden war. Dieser nostalgische Traum steht sinnfällig für den Untergang einer Kultur und ihres Selbstbewusstseins. Ähnlich wie Alzheimerkranke neigen auch Städte dazu, ihre Würde zu vergessen, sobald sie ihr kollektives Gedächtnis verlieren. Wenn von ihrem alten Geist noch ein Funke zurückbleibt, müssen sie sich anderswo niederlassen – in Konstantinopel oder im
italienischen Humanismus. Wir, die wir heute vergessen haben, dass die Selbstvergessenheit sogar Athen ereilte, sollten uns wenigstens dieser
Gedächtnisverdunkelung entsinnen, um nicht derselben Krankheit zu verfallen.

Wenn Venedig je sterben sollte, dann wird es nicht an feindlichen Invasionen noch am Einbruch neuer Völker gelegen haben, sondern an seiner Selbstvergessenheit. Damit ist nicht nur das Vergessen der eigenen Geschichte gemeint, sondern auch das mangelnde Bewusstsein für die kostbaren Eigenschaften einer Stadt nach Menschenmaß, die kein zweiter Ort im gleichen Maße wie Venedig besitzt. Im Zuge des Wachstums der Megacitys sind Menschen Lebensrhythmen unterworfen, die nichts mehr gemein haben mit dem Geist der Stadt als eine der
bedeutendsten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte.

An die Stelle der Stadt des Menschen ist eine Stadt nach dem Vorbild einer Maschine für die Produktion und den Konsum von Waren getreten: etwa die chinesische Stadt Chongqing, die im Jahr 1930 noch 600 000 Einwohner zählte, heute aber von 32 Millionen Menschen bewohnt wird. Die Stadt als Lebensform, vormals Prägestätte des Denkens, Gesellschafts- und Kulturlabor, wird zur bloßen Verpackung gleichsam naturwüchsiger Siedlungen. Tatsächlich aber werden sie gesteuert durch die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, zum
Vorteil kleiner Minderheiten. Und während diese sich in Luxusbehausungen außerhalb der Städte erquicken, sind viele Bewohner der Städte in trostlose Wohnsilos eingemauert.

Zum Glück vollzieht sich diese Entwicklung in verschiedenen Teilen der Welt nicht mit derselben Geschwindigkeit. In Europa ist die Differenz zwischen der herkömmlichenforma urbis und den neuen Termitenhügeln noch kenntlich. In Italien, dem Ort einer der ältesten städtischen Zivilisationen, findet diese Spannung ihren Ausdruck im bitteren Kontrast zwischen den historischen Zentren der Städte und ihren Peripherien. Angetrieben von Grundstücksspekulation und Bodenertrag haben sich die Peripherien in den vergangenen Jahrzehnten auf
unkontrollierte Weise ausgedehnt: In Italien sind sie gemeinhin geprägt von hässlicher und schlecht konstruierter Architektur, von unzureichender Anbindung an die historischen Zentren, von Armut. Von Städten in der Ebene, wie Florenz, können wir die Schönheiten erst ahnen, wenn wir die endlos tristen Vorstädte durchquert haben. Und doch gehörte gerade Florenz zu jenen Städten, die immer
aus der Ferne sichtbar sein wollten, weshalb im Jahre 1531 für eine breite Zone außerhalb der Stadtmauern ein absolutes Bauverbot erlassen wurde.

Der jahrhundertealte Einklang von Stadt und Land, der Italien zu Europas Garten werden ließ, ist eines gewaltsamen Todes gestorben. Seine Mörder waren keine barbarischen Invasoren, sondern selbstvergessene und die Gesetze missachtende Italiener. Jede Gesellschaft bringt einen ihren Bedürfnissen angemessenen Raum hervor, der Schauplatz ist für ökonomische Handlungen, soziale Hierarchien, die Macht, das Wissen und die Riten. Deshalb ist der Raum einer industriellen Kultur radikal verschieden von seinem ländlichen Gegenstück.

Venedig hat mit seiner Lagune und seiner einzigartigen Geschichte im Laufe der Jahrhunderte einen kulturellen und gesellschaftlichen Raum von einer Dichte und Originalität ohnegleichen geschaffen. Dieser Raum war und ist eins nicht nur mit Venedigs Geschichte und Sprache, sondern auch mit der Luft, die man dort atmet, mit dem Leben und dem Gedächtnis von Individuen und von Familien, eins auch mit Venedigs Gewässern, seinem kulturellen, künstlerischen, religiösen, ökonomischen Leben. Niemand wird behaupten können, dass man in gigantischen Mietskasernen glücklicher lebt als in kleineren Städten mit vielfältigerer urbaner Kultur. Und doch sind die Superstädte, die uns wie Wohnformen eines anderen Planeten anziehen und abschrecken, zu zeitgemäßen Ikonen geworden. Wir neigen dazu, siemit der Idee der „Modernität“ schlechthin zu identifizieren, zu glauben, dass in nichts anderem die Zukunft des Planeten bestünde – in unbestimmtem Wachstum der Bevölkerung, unbestimmtem Verbrauch natürlicher Ressourcen, zunehmender Konzentration der Bewohner.

Dieses scheinbar unanfechtbare Entwicklungsmodell gehorcht einem Neoliberalismus, der in den „Gesetzen des Marktes“ die einzige universale Werteordnung erkennen will. Das Modell wird landläufig „Entwicklung“ genannt und hebt tatsächlich sämtliche Koordinaten aus den Angeln, mit denen wir gewohnt waren, uns selbst in unsere Städte hineinzudenken: Es lässt uns dort ärmer fühlen, wo wir in Wahrheit reicher sind, und will uns etwas vorgaukeln, was nachprüfbar falsch ist – dass wir nämlich allesamt wohlhabender und glücklicher wären, wenn unsere Städte von Hochhäusern bevölkert würden.

Daher rührt vielleicht ein vor zwei Jahren auf der Venedig-Biennale vorgestelltes Projekt, wie die Stadt vor den Hochwasserfolgen der globalen
Erwärmung zu schützen wäre – durch einen „Kranz von Wolkenkratzern“, erbaut auf künstlichen Inseln, welche die Stadt kreisförmig umgeben, sie vor den Gezeiten schützt und mit Venezianern wiederbesiedelt ist. Im Begleittext für das Projekt „Aqualta 2060“ des Architektenbüros JDS (Julien de Smedt) heißt es: Um „die Aussicht auf die historische Stadt zu genießen“, brauchen sich die Bewohner der Hochhäuser Venedig nur als „gloriosen Bühnenprospekt“ vorzustellen. Die Bewohner der historischen Stadt wären dann die Fische im Aquarium.

Eine ähnliche Idee wurde im Juni 2010 von Roms Bürgermeister lanciert: Zu durchbrechen sei „das Tabu“ alter Rechtsbande, denen zufolge kein Bauwerk die Kuppel von Sankt Peter überragen dürfe. Doch wie würden diese Hochhäuser wohl aussehen? Würden sie eine neue urbane Form umreißen oder wären sie eine Dornenkrone, die das in Worten des Bürgermeisters „bedeutendste historische
Zentrum der Welt“ belagert – und kreuzigt?

Wolkenkratzer in Rom, Wolkenkratzer in Venedig, ein Wolkenkratzer in Planung auch für Turin. Diese Sucht der „Aktualisierung“ ist eine provinzielle, eine typisch italienische Obsession. In ihrem Namen aber scheint heute so gut wie alles erlaubt zu sein, und so wird auch der Wolkenkratzer zum Symbol unverblümter Modernität, zur auch von Italien siegreich zu bewältigenden Herausforderung. Nur wird dabei vergessen, dass die für die Skyline von New York und Chicago so symbolträchtigen Wolkenkratzer schon am Ende des 19. Jahrhunderts in die Höhe zu streben begannen. Wolkenkratzer im heutigen Italien zu errichten, hieße deshalb „Aktualisierung“ auf den Stand von vor einem
Jahrhundert, oder bestünde darin, nicht mehr New York nachzuahmen, sondern Chongqing, Singapur oder Dubai.

Vergessen geht außerdem, dass im Italien dieser Jahrzehnte eher zu viel als zu wenig gebaut wurde: Die trostlosen Peripherien bezeugen einen grauenhaften Geschmacksniedergang nicht nur auf Seiten der Architekten und Ingenieure, sondern auch der Bürger eines Italiens, das den
guten Stil des Bauens in anderen Epochen nicht nur zu entwickeln, sondern auch in das übrige Europa zu exportieren wusste. Es braucht eine neue Politik des Bewohnens, indem man möglichst viele der Schrecken beseitigt und dem, was noch zu retten ist, wieder einen Wert beimisst.

Mit einer neuen Poetik des Wiedergebrauchs wäre Qualitätsarchitektur in Italien schon halbwegs gewonnen. Es wäre dies eine echte Revolution. Sie setzt eine urbanistische Kultur voraus, die nicht ordinär ist. Gebraucht werden Architekten, die kulturell versiert sind, Bürgermeister, die nicht vor jedem Bauherrn in die Knie gehen, Bürger, die sich empören; vor allem aber bedarf es eines neuen Bewusstseins, das all diese Themen in den Mittelpunkt der politischen Diskussion rückt.

Einem urbanen Entwicklungsmodell, das auf der Zusammenballung der Bewohner in Wolkenkratzern basiert, steht heute keine Stadt der Welt so im Weg wie Venedig.Geschützt durch seine Lagune in tausendjähriger Symbiose scheint diese Stadt allen Angriffen gegenüber immun zu sein, unfähig auch zu altern: eine glückliche Insel inmitten einer Welt, die von unkontrollierten Veränderungen heimgesucht wird. Wir wissen jedoch nur zu gut, dass dem nicht so ist. Das tiefe Glücksgefühl, das jeder Besucher in Venedig empfindet, weil ihn die überwältigende Dimension des Urbanen in einem naturhaften Ambiente sofort gefangen nimmt, weicht alsbald anderen Gedanken. Pausenlos erinnern uns die Schiffshochhäuser in Sichtweite daran, dass diese Stadt mitnichten unaufhörlich jung und auf wunderbare Weise in sich geschlossen ist, vielmehr aber alt,moribund, arm und offenbar bedürftig genug, um die Touristen um Almosen zu bitten.

Als Tempel der Konsumkultur verkaufen die monströsen Kreuzfahrtschiffe Illusionen, indem sie dem kommerzialisierten Massentourismus einen persönlichen Anstrich geben. Wie ephemere Heiligtümer eines Gesundheitsritus geben sich diese Schiffe alle Mühe, einer Stadt zu ähneln, mehr noch einer zum Wolkenkratzer verdichteten Neu-Stadt mit Einkaufszentren und Restaurants, Diskotheken und Kinos, Geschäften, Fitnessstudios, Schlittschuhbahnen, Joggingstrecken. Nichts wäre unnatürlicher als das. Vielleicht ist deshalb der
Augenblick der Glorie für diese Monsterschiffe erst dann erreicht, wenn sie die pompöse Anmaßung einer künstlichen Stadt im Akt der Schändung des Hafenbeckens von San Marco zur Schau stellen, indem sie die tausendjährige Basilika, die Bronzepferde aus Byzantium und den Dogenpalast herausfordern.

Bis zu 60 Meter und höher, höher auch als die noblen Paläste des Canal Grande dringen diese Schiffe ein in das Herz von Venedig, um die Schönheit zu beschauen, während sie diese tatsächlich verdunkeln und beleidigen. Die Voyager of the Seas beispielsweise ist 63 Meter hoch, 311 Meter lang, 47 Meter breit und hat 47 Decks; die Costa Favolosa, nur wenig kleiner, bietet ihren Gästen den Anblick von Repliken des Kaiserpalasts von Peking, des Circus Maximus von Rom und des Schlosses von Versailles. Indessen bringen diese Schiffe uralte
Gleichgewichte aus dem Takt, weil für sie die Hafeneingänge in Malamocco von neun auf 17 Meter und auf dem Lido von sieben auf zwölf Meter vertieft werden mussten. Vergeblich verhallen die Appelle gegen solche Entstellungen, welche die charakteristische Form der Stadt und ihres zivilen Lebens zunichtemachen. Selbst der ministerielle Erlass, der nach der Katastrophe der Costa Concordia vom vergangenen März erging und der Küstenpassagen von weniger als zwei Seemeilen verbietet, lässt eine einzige Ausnahme zu: Venedig. Ein ähnliches
Unglück, an dem Venedig nur knapp vorbeischrammte, ist schon wieder vergessen: Am 23. Juni 2011 war das deutsche Kreuzfahrtschiff Mona Lisa – von „nur“ 200 Meter Länge – wenige Meter neben der Riva degli Schiavoni gestrandet.

Anderthalb Millionen Touristen im Jahr verlassen, nachdem sie einen zerstreuten Blick auf Venedig geworfen haben, vorübergehend die Schiffe, um irgendetwas zu kaufen und eine Zugangsgebühr zu entrichten. An erster Stelle zählt das Geld. Weder im Umweltministerium noch am Sitz des Ministerpräsidenten hat bislang jemand die Folgen des Drucks von Tausenden Tonnen Wassers auf die fragilen Ufer Venedigs berechnet. Noch niemand hat genauere Daten über die Belastung der Luft mit Feinstaub (500 Tonnen Ausstoß von den Schiffen im Jahr 2010) geliefert, oder über die Verseuchung der Lagune mit hochgiftigen Benzopyrenen. Niemand weiß etwas über den Zusammenhang mit den seit Jahren zunehmenden Tumorerkrankungen zu sagen, auch wenn die amtliche Statistik für Venedig einen „signifikanten Überschuss an Lungentumoren“ registriert.

Unter den Waffen, die auf Venedig gerichtet sind, wiegt am schwersten die dauernde Anklage, „alt“, ungeeignet für die moderne Welt zu sein und „Aktualisierungsmaßnahmen“ zu bedürfen. Zu letzteren zählt der vergebliche Versuch des Architekten Rem Koolhaas, im Auftrag von Benetton dem Fondaco dei Tedeschi Rolltreppen aufzuzwingen, dem bedeutenden historischen Palast am Rialto. Ein anderes Thema sind die Transportmaßnahmen, „um Venedig aus der Isolation zu befreien“. Dachten die Futuristen daran, den Canal Grande aufzuschütten und zu asphaltieren, so planen ihre heutigen Nachfolger eine Metro zwischen Venedig, Padua und Treviso, um diese drei Städte zu einer
Megalopolis zu vereinigen. Folgendes Szenarium zeichnet sich da ab: Die Venezianer in der Metro unter der Lagune, die Touristen oberhalb auf ihren Schiffshochhäusern. Das erinnert an die „Zeitmaschine“ von H. G. Wells mit den zwei Menschheiten, einer unterirdischen und einer anderen unter der Sonne.

Der Prozess der Disneyfizierung hat sich schon vor langer Zeit angekündigt: Schon 1981 war in der Zeitschrift Urbanistica der Satz zu lesen, wonach „die Verwandlung Venedigs in ein Disneyland den Übergang zu einer kreativeren, fröhlicheren und festlicheren Lebensweise anzeigen könnte“, wobei der Name des Autors, Marco Romano, als Mitglied des dem italienischen Kulturministerium angeschlossenen „Consiglio Superiore dei Beni Culturali“ von 2009 dafür spricht, dass jener Trend sich bereits durchgesetzt hat.

All diese Tendenzen finden ihren einstweilen stärksten Ausdruck in dem Projekt eines Palais Lumiére des 90-jährigen Unternehmers Pierre Cardin: einanderthalb Milliarden Euro teurer Lichtpalast im venezianischen Marghera von 255 Metern Höhe auf 170 000 Quadratmetern. Drei ineinander verschlungene Türme mit 60 bewohnbaren Etagen, dazu einer Universität für die Mode, ferner Büros, Geschäfte, Kongresszentren, Restaurants, Megastores, Sportanlagen. Allerdings würde dieser Turmbau von Babel mit seinen 255 Metern den Campanile von San Marco um 140 Meter überragen, und allen Normen und Verordnungen zum Trotz würde er die Skyline von Venedig markieren: Unmöglich, diesen Turm von der Piazza San Marco aus nicht zu sehen, desgleichen von der gesamten Stadt aus. Nicht nur dies: Er befände sich auf der Höhe der Überflugroute und würde die rund 110 Meter Höhengrenze verletzen, wie sie die nationale Flugaufsichtsbehörde festgelegt hat.

Cardin aber lässt nicht locker: Entweder wird das Projekt realisiert, und zwar vollständig, oder sein Palast wird nach China auswandern. Für Cardin ist Venedig offenbar bereits identisch mit Chongqing. Und wie den Zeitungen zu entnehmen ist, sprechen sich nicht nur die lokalen Administratoren für das Projekt aus, sondern auch eine Reihe von Ministern und andere Staatsautoritäten. Auf die Frage eines Journalisten nach seiner Meinung zu diesem Projekt hat ein Ex-Bürgermeister von Venedig geantwortet: „Zum Fürchten, aber einem geschenkten Gaul guckt man nicht ins Maul.“

Was haben alle diese Episoden miteinander gemein? Es handelt sich, so wird häufig gesagt, um Chancen für Venedig. Doch will man Touristen übers Meer nachVenedig bringen – warum auf Megaschiffen, die als Dreckschleudern die Umwelt schädigen? Und könnte Pierre Cardin auf der riesigen Parkfläche, über die er verfügt, nicht zwei, drei, fünf niedrigere Türme mit derselben Oberflächenausdehnung errichten lassen? Es gibt für all diese Fälle nur eine mögliche Antwort: Venedig zu beleidigen, ist nicht die ungewollte Konsequenz, sondern der eigentliche Kern solcher Projekte. Es ist das Statement einer sich in vulgärer Weise aufrichtenden Hypermoderne, die Revanche an der Vergangenheit nimmt, die Venedig demütigen will, indem sie aus der Höhe eines Megaschiffs oder von einem Wolkenkratzer auf die Stadt herabschaut.

Was Venedig widerfährt, betrifft nicht allein Venedig. Gerade weil diese Stadt so einmalig in ihrer einzigartigen Beziehung zu den Gewässern und zu ihrem Hinterland ist – weil gleichsam „von Natur aus“ für Fußgänger und nicht für Automobilisten geschaffen -, ist Venedig auf globaler Ebene das stärkste Symbol für das von der antiken Stadt verkörperte menschliche Maß. Diese Erfahrung müssen wir uns bewahren.

Als mächtigstes Bild der „antiken“ Stadt ist Venedig aus eben diesem Grund auch die Hauptzielscheibe der neuen Barbaren, die es mit Freude in den Dienst der merkantilen Gottheit stellen. Um diese Stadt in Schutz zu nehmen vor den andauernden Beleidigungen, die ihren Tod herbeiführen könnten, genügt es nicht, in uns selbst die Erinnerung an die Vergangenheit zu reaktivieren. Es reicht nicht einmal aus, sich zu empören. Der entscheidende Schub bestünde im Wissen dessen, was zu tun ist: Ein Projekt für die Zukunft dieser Stadt zu entwickeln,
das ihre Einzigartigkeit bewahrt und sich die unbedingte Sorge um ihr Ambiente verpflichtet.

Den Venezianern – nicht nur den Bürgermeistern und Dezernenten, sondern allen Bürgern der Stadt – obliegt eine vitale Aufgabe und eine ernste Verantwortung: Zu bekunden, dass Diversität und Schönheit kein schweres Erbe aus der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart zu lebende Geschenke sind, mit denen wir die Zukunft gestalten und sichern können; dass Venedig, um fortzudauern, kein Chongqing werden darf, sondern dessen Antipode sein muss; dass es in der Welt, in der wir leben, Platz gibt für verschiedene Modelle für Kulturen und
Lebensstile; und dass jenes Modell, das von Venedig und den Venezianern entwickelt wurde, ein Recht hat, auf der Welt zu bleiben. Denn wenn Venedig stirbt, wird nicht nur Venedig sterben. Die Idee der Stadt selber wird sterben, die Form der Stadt als ein offener, vielfältiger und ziviler Raum des gesellschaftlichen Lebens.

Salvatore Settis ist emeritierter Professor für Klassische Archäologie an der 
Scuola Normale Superiore in Pisa. Von 1994 bis 1999 war er Direktor des Getty 
Research Institute in Los Angeles. Dieser Text, aus dem Italienischen übersetzt 
von Volker Breidecker, ist die gekürzte Fassung eines kürzlich gehaltenen 
Vortrags am Deutschen Studienzentrum in Venedig, unterstützt vom 
Internationalen Kolleg Morphomata. 

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