In memoriam Ruth Tennigkeit

Heute, am 9. September, einen Tag nach der Queen, ist meine Tante Ruth gestorben. Sie wurde 92 Jahre alt. Was sie mit der Queen gemein hatte, war die eiserne Disziplin. Mit der gleichen Gefasstheit, mit der die Queen Brücken einweihte und Premierminister ernannte, fuhr meine Tante mit dem Fahrrad zur Metallfabrik und stanzte Metallsiebe, ihr ganzes Leben lang. Acht Stunden lang im Akkord. Sie hat sich nie darüber beklagt. So war es eben, das Leben im Ruhrgebiet, wo die Straßen wie ermordete Revolutionäre heißen.

Als ich Kind war, besuchte sie uns oft am frühen Nachmittag, auf dem Rückweg von der Arbeit. In der ersten Zeit nach dem Tod meines Vaters kam sie jeden Tag. Sie kam mit dem Fahrrad und roch nach frischer Luft und Maschinenöl. Wenn meine Mutter weinte, weinte sie mit.

Bis „der Russe kam“, hatten meine Großeltern mit ihren Kindern in der Nähe von Ottmachau gelebt, einer kleinen Stadt in Oberschlesien, im Oppelner Land. Meine Mutter war elf, als sie flüchten mussten, Tante Ruth war vierzehn Jahre alt. Oft hielt man meine Mutter und meine Tante für Zwillinge, weil sie sich so ähnlich sahen. Sie konnten keinen Tag überstehen, ohne miteinander zu telefonieren und waren sich nie einig.

Tante Ruth war die erste, die wieder an jenen Ort fuhr, der für alle in der Familie immer nur „Zu Hause“ blieb. 1976 fuhr sie zum ersten Mal, dreizehn Stunden Busfahrt vom Ruhrgebiet bis nach Schlesien. Misstrauisch seien sie von den Polen beäugt worden, sagte sie: „Die hatten doch alle Angst, dass wir wieder zurückkommen wollten!“ Damals gab es keinen Oder-Neisse-Vertrag und in den Hotels kein vernünftiges Essen. „Buletten“, sagte Tante Ruth, „überall gab es nur Buletten.“ Die konnten sie jedoch nicht abschrecken, immer wieder zu kommen. Jedes Jahr fuhr sie wieder hin, mit meinem Onkel, ihrem Prinzgemahl.

Nach dem Tod meines Onkels bin ich mit meiner Mutter und meiner Tante Ruth nach Schlesien gefahren. Meine Mutter und Tante Ruth saßen im Fond, weil sie sich beide nicht das Privileg streitig machen wollen, vorne neben mir zu sitzen. Schon als wir nach unserer Ankunft in einem Café am Breslauer Marktplatz saßen, begrüßte meine Tante den Kellner nonchalant mit einem Dzien dobry, Guten Tag. Die polnischen Laute glitten ihr so glatt und vertraut über die Lippen, als wären sie immer schon in ihr gewesen. Als seien sie aus einem anderen Leben wieder aufgetaucht. Wir besuchten Herrn Szuster, der in dem Haus meiner Großeltern gewohnt hatte, bis es abgerissen wurde. Wir nahmen unter Heiligenbildern Platz, tranken Kaffee und zum Abschied küsste Herr Szuster uns allen die Hand.

Schlesisches Rom! sagte Tante Ruth stolz, als wir Neiße besuchten, den Geburtsort meiner Mutter, der mit Kirchen vollgestellt ist, mit gotischen und barocken Kirchen, vor denen Kommunionkinder ihren Einzug probten. Sie hatten die gleichen Frisuren wie meine Mutter und meine Tante, als sie Kinder waren. Als wir an einem Brunnen vorbeikamen, auf dem ein feinziselierter, schmiedeeiserner Helm thronte, rief Tante Ruth: „Ach, der Schöne Brunnen! Den mussten wir immer in der Schule malen.“ Sie sagte es gerührt und verlegen zugleich, so als ob sie plötzlich eine Berühmtheit wiedergetroffen hätte und so vermessen war, sie einfach anzusprechen. Und ich stellte mir vor, wie es war, als sie nach dem Krieg ins Ruhrgebiet kam, wo kein Mensch etwas von Schlesien hören wollte, geschweige denn von einem schmiedeeisernen schlesischen Brunnen, den meine Tante als Kind malen musste und den sie ihr ganzes Leben lang nicht vergessen hatte.

„Noch ein Stückel müssen wir gehen“, sagte Tante Ruth, als wir über den Marktplatz von Ottmachau liefen. Seitdem wir in Schlesien waren, verkleinerte sie schlesisch: ein Stückel, ein bissel. „Hier war das Kino“, sagte Tante Ruth, „hier war die Brauerei, weißt du noch, hier war die Eisdiele und hier Grötzner, die Gärtnerei!“ – „Kenn ich nicht“, sagte meine Mutter. „Nu, die Gärtnerei,“ sagte meine Tante beharrlich, „entsinn dich doch!“ Und meine Mutter antwortete: „Sag nicht: Entsinn dich!, wenn ich mich nicht erinnern kann.“

Ich weiß noch, wie ich mich irgendwann auf einen Feldstein setzte und in der lichtblauen Weite meine Mutter und Tante Ruth einen der staubigen Wege entlanglaufen sah. Hinter jedem Feldweg lauerten ihre Erinnerungen. Vor einem leuchtenden Rapsfeld blieben sie stehen. Tante Ruth deutete auf etwas in der Ferne. Meine Mutter lachte und schüttelte den Kopf.

Und jetzt sehe ich meine Tante Ruth. In der lichtblauen Weite der Erinnerungen.

 

3 Kommentare

  1. Cara Petra,
    Deine Tante Ruth hat ein vergleichbares Leben mit meiner Tante Gertrud , genannt Tante Trudchen gehabt. Eigentlich bin ich keine Blutsverwandte. Sie war die Tante meines verstorbenen Mannes, die ich vor 50 Jahren als junges Mädchen/Frau kennengelernt habe. Aber ich habe sie bewundert!Vor zwei Jahren habe ich sie aus Köln-Kalk!! In meinen Wohnort geholt. Seitdem habe ich mich um sie gekümmert. Sie hat zwei gute Jahre hier verbracht! Nun ist sie am 25.08.22 mit fast 103!!!!!Jahren gestorben. In den Tagen vor ihrem Tod ,habe ich bei ihr gesessen und alte Fotoalben nochmal angeschaut.
    Sie stammte aus der Nähe von Stettin und hat vieles in ihrem langen Leben erlebt und mitgemacht.Auch bei ihr kam „der Russe“, der alles verändert hat.
    Sie hat das Leben so genommen, wie es kam und war bis zu ihrer letzten Lebensphase ein „Steh – auf- Männchen“! Gerne hätte ich mehr darüber erfahren!
    Diese Frauen gehören einer besonderen Generation an! Sie waren mutig und tapfer und sind ihren Weg gegangen, den sie sich sicherlich irgendwann mal anders vorgestellt haben!
    So gedenken wir in Liebe und Hochachtung unseren tollen Zia Ruth e Zia Gertrud!
    Ihre
    Ute Pieczewski

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