Neapel und die Camorra

Neapel – die Stadt der Camorra

Sie handeln mit Frauen und Zement, mit Kokain, Waffen und Müll; sie stehlen, erpressen, morden: 100 Camorra-Clans haben Neapel als Geisel genommen. Der GEO-Autorin Petra Reski ist es gelungen, eine Zentralfigur aus einer der mächtigsten Familien zu treffen, einen Mann mit weichem Herzen und Panzerglas in den Fenstern. Er gab ihr Einblick in das »sistema« – jenes System aus Gewalt, Korruption und Angst, in dem die Stadt am Vesuv, ein Symbol der italienischen Krankheit, heute stärker gefangen ist als je zuvor.

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„Ich erzähle dir das alles, weil ich dich wie eine Schwester betrachte“, sagt Carmine. Er sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem vergoldeten Rokokostühlchen, ein zierlicher Mann auf einem zierlichen Stuhl.

Carmine hat sehr kleine Füße, überhaupt ist er ungewöhnlich feingliedrig, seine Taille ist so schmal wie die einer Frau. Sein Hemd ist bis zum Bauchnabel aufgeknöpft und gibt den Blick auf eine fast haarlose Brust und eine schwere weißgoldene Kette frei, an der ein herzförmiges Medaillon mit zwei in Gold gravierten Porträts hängt.

Gerade hat Carmine erzählt, wie ihn seine erste Frau ins Gefängnis brachte.

Er habe ihr den Lauf seiner Pistole in den Mund gesteckt, erzählte seine Frau den Carabinieri. Kurz darauf nahmen sie Carmine fest. Neun Monate lang war er hinter Gittern, wegen Mordversuchs.

Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, wollte er seine Frau umbringen.

Wie kamen wir eigentlich darauf?

Ach ja, es ging um Liebe. Um die geht es oft in seinen Liedern:
Mal wird die Liebe nicht erwidert, mal dauert sie nur einen Wimpernschlag lang, mal ist sie aussichtslos. Herzsprengend ist sie immer. In „Ich leide noch“ vertraut sich ein verlassener Mann einem Freund an. „Ruf mich an“ erzählt von heimlicher Liebe.

24 Lieder hat Carmine komponiert, nachts, wenn er nicht schlafen konnte, weil die Eingebung in ihn fuhr, weil er sehnsüchtig war oder nervös.

„Du weißt, wer ich bin. Du kennst meinen Namen“, sagt der zarte Mann sanft. Carmine Sarno ist Musikproduzent, einerseits. Und Mitglied eines der mächtigsten Camorra-Clans Neapels, andererseits. Jeder in der Stadt weiß, was sein Name bedeutet – die Sarnos beherrschen die gesamte östliche Peripherie bis weit in das Umland.

Und Ponticelli ist ihre Festung.

Dort betreibt Carmine die Agentur „La Bella Napoli“ – wobei das schöne Neapel hier eher wie ein Vorhof zur Hölle aussieht. Mit in der Sonne gärenden Müllsäcken, Solarien, die „Fuego“ heißen, Feuer, und der „Bar Coppola“, in der junge, nervöse Männer schon morgens Wassergläser voll Whisky Sour trinken. Um dann eine Strophe eines Liebesliedes zu singen.

Wenn sie Carmine erblicken, dann lächeln sie so breit, dass man ihr vom Kokain zerfressenes Zahnfleisch sieht.

Carmine vertritt 150 Sänger, die besten Neapels sind darunter. In seiner Agentur ist eine Wand mit den Postern der Stars tapeziert. Es sind Männer, denen Tätowierungen aus den Hemdkragen kriechen; Männer mit strichfein geschnittenen Koteletten.

Männer, die sich „Alessio“ nennen oder „Nello Amato“ und bei deren Anblick die Mädchen so hysterisch anfangen zu weinen, als habe sich gerade vor ihren Augen das Blut des heiligen San Gennaro verflüssigt.

„E carcerate“ heißt einer der Hits aus Carmines Werkstatt: „Die Häftlinge“ ist eine Märtyrer-Hymne über jene Männer, die ihre Kinder nicht aufwachsen sehen dürfen.

Carmine Sarno ist ein Mann mit weichem Herzen. Und mit Panzerglas vor den Fensterscheiben. Er wohnt einen Steinwurf von der Agentur entfernt in einem jener unverputzten Plattenbauten auf Stelzen, aus denen ganz Ponticelli zu bestehen scheint.

Das Panzerglas sei notwendig gewesen, weil finstere Typen von Zeit zu Zeit die Gegend unsicher machten. Was eine elegante Umschreibung ist für jenen Camorra- Krieg, der zwischen dem Clan der Sarno und jenem der Panico herrscht und der sich mal in einer Autobombe entlädt und mal in einem Kopfschuss.

Der Krieg der Clans tötete auch Carmines Neffen – dessen Antlitz in Gold graviert nun auf seiner Brust ruht. Der Junge war von einer Autobombe in die Luft gesprengt worden; sie galt eigentlich dessen Vater.
„Nur die Hände sind übrig geblieben“, sagt Carmine.

Anders als die sizilianische Mafia ist die Camorra horizontal organisiert; es gibt keine Hierarchie und kaum Regeln, viele wollen Boss sein, das geht nicht ohne Mord. Jeden dritten Tag wird in Neapel ein Mensch getötet.

Obwohl seit 1994 mit Antonio Bassolino ein „Hoffnungsträger“ die Wiedergeburt Neapels beschwört, erst als Bürgermeister, dann als Regionalpräsident, gibt es nach wie vor jährlich rund 100 Morde, Analphabetismus unter Jugendlichen und Müllberge, die bis in den ersten Stock reichen.

Und dazu muss die Stadt auch noch politisch-korrekte Lippenbekenntnisse aushalten: „Die Moral war immer mein Leitstern“, verkündete Antonio Bassolino, als die Staatsanwaltschaft Anfang 2008 gegen ihn Anklage wegen Betrugs und Amtsmissbrauchs erhob.

Früher wurde der Regionalpräsident wie ein Heiliger verehrt – er stand als Krippenfigur in der Via San Gregorio.
Heute hängen lebensgroße Puppen mit der Aufschrift „Bassolino“ an den Bäumen der Innenstadt. Der Linksdemokrat hat sich vor allem mit seiner Vetternwirtschaft verhasst gemacht. Sein Netzwerk kontrolliert in der Stadt jeden öffentlichen Auftrag. Und die Neapolitaner mussten feststellen, dass die Camorra in den 14 Jahren der Bassolino- Regierung bestens gediehen ist: so gut, dass sie heute als Neapels System bezeichnet wird: „il sistema“.

Nicht zufällig ist der neue Name der Camorra kein Dialekt-Ausdruck, sondern sprachlich neutral, ganz so, als sei „das System“ das Natürlichste der Welt, eine Gesellschaftsordnung, ein Gegenstaat, eine Alternative.

Das Wort „sistemare“ bezeichnet nicht nur „in Ordnung kommen, sich einrichten“, sondern auch, „jemandem eine Arbeit besorgen, eine Position verschaffen“.

In der neapolitanischen Bronx bedeutet dies, dass Kinder im Monat 1500 Euro damit verdienen, im Auftrag der Camorra einen Drogenumschlagplatz zu bewachen.

Anfang 2007 verhaftete die Polizei in Ponticelli 71 Clanmitglieder der Sarnos und der Panicos, denen neun Morde, zwei Mordversuche, drei Körperverletzungen und ein vereiteltes Attentat zur Last gelegt werden, überdies Raub, Wucher, Drogen- und Waffenhandel.

Kalaschnikows, Schnellfeuergewehre, Pistolen und Sprengstoff wurden in jenen Bussen nach Neapel geschmuggelt, mit denen polnische Haushaltshilfen anreisten. Außerdem beschlagnahmten die Ermittler 20 Unternehmen, dazu millionenteure Immobilien, Autos, Jachten.

Und in Ponticelli sieht man ausgebrannte Autowracks, selbst gemauerte Hausaltäre und das Graffito „Mein Atem gehört dir“. Denn hier rührt sich kein Lufthauch ohne die Zustimmung der Sarnos. Wachposten melden jede verdächtige Bewegung – die eines verdeckten Ermittlers, eines abtrünnigen Clan- Mitglieds oder eines Motorradfahrers mit Helm; in Neapel tragen nur die Killer Helme.

Die Sarnos, sieben Brüder und fünf Schwestern, herrschen seit Anfang der 1980er Jahre in Ponticelli. Drei der Brüder sind im Gefängnis – insgesamt sind 16 Mitglieder der Familie in Haft. Der älteste Bruder Ciro gehörte bereits im Alter von 30 Jahren zu den gefährlichsten Camorristi Neapels und sitzt mit Unterbrechungen seit fast 18 Jahren – weshalb ihm Carmine das Lied „Ciro, Ciro“ widmete, in dem er das Los seines Bruders beklagt.

Ciro wird „o` sindaco“ genannt, der Bürgermeister, weil er sich 1980 zum Gebieter über das Volk der „terremotati“ erklärte: jener vom Erdbeben Vertriebenen, die Ponticellis Ruinen besetzten.

Bauunternehmer hatten Subventionen kassiert und dann Betonskelette hinterlassen, „o` sindaco“ hatte die Behausungen zugeteilt. Und für Strom, Wasser, Gasanschlüsse gesorgt.
So verschaffte er sich die Ergebenheit derer, die nichts zu verlieren hatten. Als Ciro Sarno 1990 wegen illegalen Waffenbesitzes verhaftet wurde, brach eine Revolte aus: Von den Balkonen hagelte es Bratpfannen, Blumentöpfe und Geschirr auf die Polizeibeamten.

Carmine spricht ungern über solch traurige Dinge. Lieber spricht er über seine Lieder. Die stets von wahren Geschichten aus Ponticelli inspiriert sind: wie „Mit Jesus vereint“ über den kleinen Francesco Paolillo; er starb beim Spiel in einer nicht gesicherten Bauruine. Zu seinem Gedenken hat Carmine einen Videoclip produziert und einen kleinen Altar mauern lassen, unweit der Stelle, an der Francesco in den Tod stürzte.

Bei dem Gedanken daran schweigt Carmine, und man spürt in seinem Büro nichts anderes als Pietät und den eisigen Wind der Klimaanlage. Deren Luftzug weht über eine verkümmerte Yucca, das Bild von Padre Pio, der über einem Keyboard wacht, und einen Kabarettisten.

Mit demütigem Blick entrollt er ein Plakat und versucht Carmine für sein Programm zu begeistern, das garantiert jugendfrei sei, einfache Texte, keine Schimpfworte. Er tritt zusammen mit seiner Tochter auf, die neuneinhalb Jahre alt ist, ein Naturtalent, der Auftritt sei ausbaufähig und geeignet für Kommunionfeiern und Hochzeiten, für Taufen und Firmungen. Dann erzählt er einen Witz aus seinem Programm.

Carmine lacht nicht, sondern blickt aus dem Fenster. Und erwidert den Gruß des Briefträgers. Ein Sarno vergeudet sich nicht. Weder in Worten noch in Gesten.

„Wir sind das letzte Nest des Widerstandes“, sagt Rechtsanwalt Gerardo Marotta. Wer zu seinem „Italienischen Institut für philosophische Studien“ gelangen will, muss sich in der Via Monte di Dio den Weg vorbei an meterhohen Abfallhaufen bahnen, weil die Müllabfuhr wieder einmal streikt.

Im Januar 2008 rückte die Armee an, um in Neapel platzende Abfallsäcke einzusammeln, aber noch im März verrotteten schätzungsweise 5000 Tonnen Unrat in den Straßen der Stadt.

Neun Sonderkommissare wurden verschlissen, der Advokat kennt das schon, dieses „Müll-Ballett“, seit 14 Jahren geht das so, seit die Camorra entdeckte, dass der Müll ihr mehr Geld einbringt als der Kokainhandel.

Die Camorra betreibt über ihre Firmen nicht nur die Müllabfuhr der Stadt, sondern verdient vor allem am Giftmüll Europas, den sie konkurrenzlos preiswert beseitigt, indem sie ihn einfach irgendwo in Kampanien verscharrt.

Neapel hat die höchsten Müllgebühren Italiens, seit Jahrzehnten macht die Camorra hohe Profite mit der Müllabfuhr und mit den Mülldeponien, legalen und illegalen, mit denen sie das Hinterland verseucht hat, mit Müll, der illegal verbrannt wird und der das Grundwasser und die Luft mit Dioxin belastet, mit Müllsäcken, die aus den Straßengräben wie Furunkel wuchern und die nachts, nachdem sie angezündet wurden, wie Signalfeuer des Untergangs lodern.

In der Region Kampanien gibt es keine einzige funktionierende Abfallverbrennungsanlage.
Und der Notstand wird regelmäßig immer dann ausgerufen, wenn die Kippen überlaufen – und regelmäßig tun alle Politiker so, als entdeckten sie erst dann, womit die Camorra ihr Geld verdient.

„Sieben neapolitanische Universitäten sind nicht imstande, das Problem zu lösen“, sagt der Advokat müde. Bürgermeisterin Rosa Russo Iervolino brachte sich ins Gespräch, als sie ein Rauchverbot in öffentlichen Parks durchsetzte.

Marotta macht mit seiner mageren Hand eine Geste, als wollte er eine Fliege verscheuchen. Er sitzt vor ochsenblutroten Marmorkapitellen, ein leichenblasser Geist mit Hornbrille und schwarzen Augen. Ungeachtet der Hitze hat er einen Wollschal um sich geschlungen, ganz so, als würde dieser Schal ihn davor bewahren, sich zu verflüchtigen.

Der Palazzo Serra di Cassano ist ein Juwel des neapolitanischen Barock, er beeindruckt mit Fresken und Marmorsäulen und mit einer Freitreppe aus schwarzem Gestein, die sich hinter dem Hauptportal emporschwingt. Dieses Portal wird seit 1799 geschlossen gehalten, seit dem Scheitern der neapolitanischen Republik.

Das Tor werde erst dann wieder geöffnet, wenn man in Neapel die Luft der Freiheit atme, hatte der Duca di Cassano entschieden: Sein Sohn war auf Geheiß von Bourbonen-König Ferdinand IV. hingerichtet worden – wie alle Revolutionäre jener aristokratischen Elite, welche, inspiriert von der französischen Revolution, die neapolitanische Republik ausgerufen hatten.

Und wir halten das Portal geschlossen, weil es bis heute keine Freiheit in Neapel gibt“, sagt Gerardo Marotta.
„Keine unternehmerische Freiheit, keine politische Freiheit, nichts. Es gibt hier nur die Freiheit der Camorra.“ Vor mehr als 30 Jahren hat Marotta unter Einsatz seines gesamten Besitzes das Institut mitbegründet, um das intelektuelle Erbe der Stadt zu retten. Eine Festung der Aufklärung in einem Meer von Müll. Gelehrte aus ganz Europa halten hier Vorträge, Nobelpreisträger und Philosophen, Jacques Derrida und Hans- Georg Gadamer waren da. Hier spricht man über die Schöpfung und die Evolution, über die Idee der Gleichheit und den süditalienischen Humanismus.

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