Supersupereinfach

Angesichts der Tatsache, dass heute das „größte Geheimnis der literarischen Welt“ angeblich aufgeklärt wurde, die Identität des sich hinter dem Pseudonym „Elena Ferrante“ verborgenen Mysteriums (laut des italienischen Enthüllungsjournalisten Claudio Gatti handelt es sich um die Übersetzerin Anita Raja – verheiratet mit dem neapolitanischen Schriftsteller Domenico Raja, nachzulesen heute gleich in vier internationalen Zeitungen, darunter die Frankfurter Allgemeine am Sonntag) – habe ich meine bescheidene Rezension von „Die geniale Freundin“ noch ein Mal gelesen:

Es war so: Eine deutsche Freundin rief mich an und fragte: „Hast du die Ferrante eigentlich schon gelesen?“ Sie klang gleichzeitig etwas entkräftet und heldenhaft – so wie man klingt, wenn man es geschafft hat, acht Kilometer am Stück zu rennen, ohne Seitenstiche zu kriegen.

„Nö“, sagte ich spitz – wie immer, wenn ich ahne, dass mir etwas aufgezwungen werden soll: noch ein Stück Torte oder eben der vierbändige Romanzyklus von Elena Ferrante, der, seitdem er auch in den USA erschienen war, bereits das gesamte italienische Feuilleton rauf- und runtergelobt wurde und dem eigens die Regeln des italienischen Literaturpreises Premio Strega angepasst worden sind, damit der/die/das „rätselhafte Unbekannte“, das sich hinter dem Pseudonym verbirgt, überhaupt nominiert werden konnte. Um dem Phantom auf die Spur zu kommen, hatte sich das italienische Feuilleton in eine Art Emil-und-die-Detektive verwandelt (ist es die neapolitanische Historikerin, die in Pisa studiert hat? Ist es ein Mann? Ein Paar? Die Verleger selbst?) – weshalb ich beschlossen hatte, das „Mysterium“, das Eine Million Mal verkaufte, und das Hashtag #ferrantefever an mir vorbeirauschen zu lassen.

„Du kennst doch Neapel, da wundert es mich, dass du es noch nicht gelesen hast.“

„Tja“, sagte ich. Meine venezianische Nageltechnikerin und ihre Freundinnen hatten es auch schon gelesen, alle vier Bände, in einem Rutsch, weshalb ich bereits wusste, dass es im Roman um die Freundschaft zwischen Elena Greco, genannt Lenù, und ihrer „genialen Freundin“ Raffaella Cerullo, genannt Lila, geht, die in einem Altstadtviertel von Neapel aufwachsen; ich wusste, dass Lila die Tochter des Schusters ist und die Ich-Erzählerin Lenù die Tochter eines Büroboten, ich wusste, dass die erzählte Zeit von den 50er Jahren bis in die Gegenwart reicht und mit dem Verschwinden der „genialen Freundin“ beginnt – weshalb Elena beschließt, die Geschichte ihrer Freundschaft aufzuschreiben. So wie ich meine Nageltechnikerin verstand, war das Werk so etwas wie eine Tüte Chips oder eine Tafel Schokolade oder eine Staffel House of Cards: Obwohl man ganz genau weiß, wie es ausgeht, kann man einfach nicht aufhören, weil man wissen will, ob der fiese Underwood mal wieder einem Hund den Hals umdrehen wird.

Geschundene Seele

„Also, ich habe es gelesen“, sagte meine Freundin triumphierend.

„Aber es ist doch noch gar nicht auf Deutsch erschienen, hast du es auf Englisch gelesen?“, fragte ich. Der amerikanische Hype war die Heiligsprechung, die auch noch die letzten ketzerischen Einwände großer italienischer Kritiker niedergewalzt hatte (Filippo La Porta: „Dieser literarische Narzissmus“, Francesco Longo: „Sie ist eine Erzählerin, aber keine Schriftstellerin. Ihre Sprache ist eine Kaskade aus abgegriffenen Adjektiven und Sprachbildern, alles wird vorgekaut“, Paolo Di Paolo: „schwachbrüstiges Feuilleton“, Massimo Onofri: „Ein optimales Produkt, ein rückwärtsgewandtes, epigonales Buch“). Ein italienischer Roman, der es in die amerikanischen Bestsellerlisten schafft und vom New Yorker bis zur New York Times gepriesen und in einem Atemzug mit Balzac, Tolstoi und Dickens genannt wurde, war Balsam für die durch Bunga-Bunga-Partys geschundene italienische Seele. Umberto Eco war auch schon tot, da war es tröstlich, zu wissen, dass die Literaturkenner der Financial Times Elena Ferrante auf die Liste der Frauen des Jahres 2015 gehoben hatten, gleich neben Michelle Obama und der Chefin der US-Notenbank.

„Ich habe es auf Italienisch gelesen“, sagte meine Freundin stolz. „Alle vier Bände. Ich fand es toll.“

„Echt?“, fragte ich ungläubig und fühlte mich bei meiner Ehre als Halbitalienerin gepackt. Meine Freundin spricht zwar passabel Italienisch, aber nicht so gut, dass es ihr gelänge, Nuancen und literarische Feinheiten der italienischen Sprache wahrzunehmen. Also warf ich meine Bedenken über den Haufen und beschloss, mir selbst eine Meinung zu bilden. Hier ist sie:

Meine geniale Freundin ist ein Bildungsroman, in dessen Mittelpunkt die Hassliebe zwischen zwei Mädchen steht, eine Freundschaft geprägt von Konkurrenz, Missgunst und gegenseitiger Bewunderung: klassisch. Lila ist wild, leidenschaftlich und mutig – die Ich-Erzählerin Elena bedächtig und gewissenhaft (ein italienischer Kritiker warf der Ferrante vor, sich stets überlegen zu fühlen, mir ging es genauso) und fühlt sich von ihrer furchtlosen Freundin herausgefordert. Es beginnt damit, dass beide Mädchen über einem Kellerloch sitzen – in das die böse Lila die Puppe ihrer Freundin wirft. Lenù rächt sich und wirft auch Lilas Puppe in die Finsternis – in der, wie sie sich vorstellen, der allseits gefürchtete Don Achille herrscht.

Diese Szene ließ mich hoffen, erinnerte sie mich doch an Niccolò Ammanitis großartigen Roman „Ich habe keine Angst“ (die Geschichte eines Jungen, der im Kellerloch eines verlassenen Hauses einen halbverhungerten, gekidnappten Gleichaltrigen findet und nach und nach begreift, dass sein ganzes süditalienisches Dorf einschließlich seines Vaters in das Verbrechen verwickelt ist, eine grandiose und mitleidslose Parabel), bis ich begriff, dass der Keller bei Ferrante einfach nur ein banales Bild für ihre soziale Position ist, wie später auch das Meer, als platte Metapher für Freiheit: Als sich die Mädchen auf den Weg zum Meer machen, wollte ich das Buch schon zuklappen, hielt aber bis zum Ende durch, gewissermaßen als Freundschaftsdienst.

„Ich habe es jetzt gelesen“, sagte ich.

„Und?“, fragte meine Freundin.

„Es gefällt mir nicht.“

„Nicht?“

„Nein.“

„Warum?“

„Weil alles so vorhersehbar ist. Es ist klar, dass die wilde Lila domestiziert wird, es ist klar, dass die linke Lehrerin die einzig Gute ist, es ist klar, dass die mafiösen Solaras in der Silvesternacht schießen. Es ist ein ‚Neapel light‘, das erzählt wird: etwas Camorra, aber nicht beunruhigend. Ein Anflug von Missbrauch, nicht so, dass er schockiert. Eine Spur von Hass auf die Mutter, nicht so, dass man es der Tochter übel nehmen könnte. Die Welt im Rione ist arm, aber nicht krude, kein Wort im Dialekt, eine Art fettfreie, politisch korrekte Neapel-Folklore wird gereicht, gesättigt mit einem Spritzer Realismus, nicht so fremd, dass man sich damit nicht auch in Hamburg oder Cleveland identifizieren könnte. In Frauenzeitschriften nennt man das den Me-too-Effekt – was ja nichts Verwerfliches ist, besonders, wenn man es schafft, dabei auch noch für die Authentizität gelobt zu werden.“

Als ich danach etwas herumklickte, fand ich in einer italienischen Besprechung noch den Satz: „Es ist eine perfekte Lektüre für jemanden, der nicht viel liest“ – was auf meine Freundin gar nicht zutrifft. Sie liest so viel, dass die Buchhändler auf die Knie fallen, wenn sie eine Buchhandlung betritt. Vielleicht war es die simple Sprache, das easy reading sozusagen? Vielleicht war sie mehr von sich selbst berauscht als von dem Buch? „Ja, das stimmt“, sagte meine Freundin. „Es war supersupereinfach zu lesen, und das auf Italienisch! Ich war so stolz auf mich, ich war wie auf Ectasy, tausendsechshundertdreiundneunzig Seiten auf Italienisch habe ich noch nie geschafft.“

Geschmacksfragen

Erleichtert (an Geschmacksfragen ist schon manche Freundschaft gescheitert) schickte ich ihr noch einen Artikel, in dem eine in Amerika lebende italienische Journalistin darauf hinwies, wie die englische Übersetzung die stilistischen Fehler des Originals beseitigt hat, dessen Sprache nicht gewollt kunstlos, sondern ziemlich trivial, zum Teil sogar falsch ist – wobei es für das #ferrantefever sicher nicht von Nachteil war, dass die Übersetzerin Ann Goldstein eine in der Branche gut vernetzte Schlussredakteurin des New Yorker ist. Auch die deutsche Übersetzung ist im Zweifel besser als das Original. Nur ein kleines Beispiel: Das im Italienischen widersinnig klingende „salutare con ampi cenni“ (ein cenno ist so viel wie eine Andeutung, ein zarter Hinweis, der nicht ampio, weit ausholend, sein kann) wird mit „winkte mit weit ausholenden Gesten“ übersetzt.

Und nun lese ich, dass „Meine geniale Freundin“ also auch in Deutschland gefeiert – als „Droge“, „Jahrhundertporträt“, als „brutal ehrliche und fein herausgearbeitete weibliche Innensicht, die auch für Männer bereichernd sein kann“, mit „Seelenresten einer an Männern zerschellten Weiblichkeit“. Den Me-too-Effekt gibt es eben nicht nur bei Frauenzeitschriften.

INFO
Meine geniale Freundin. Band 1 der Neapolitanischen Saga (Kindheit und Jugend) Elena Ferrante Karin Krieger (Übers.), Suhrkamp 2016, 422 S., 22 €
Petra Reski ist Reporterin und Krimiautorin. Zuletzt erschien Die Gesichter der Toten: Serena Vitales zweiter Fall
Dieser Beitrag erschien in DER FREITAG Ausgabe 36/16.

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